Chroniken » Chroniken VII. - Die Zeit des Siegels: Berichte und Erlebnisse vom Hof der Nacht im Jahre 2010
2010.03.27 - Sangre y Juegos: Ein billiges Gleichnis
01.04.2010 - 08:35

Ein zerknitterter scheinbar vergessener Zettel zwischen diversen Unterlagen auf Maries provisorischem Küchenschreibtisch. Der Abdruck eines Kaffeebechers zeichnet sich noch deutlich in der oberen rechten Ecke ab, ebenso zieren mit Bleistift gekritzelte Arabesken den linken Rand des Papieres.

Ein billiges Gleichnis

Stellen Sie sich ein Aquarium vor. Ein Aquarium, welches auf einer Fensterbank steht. Einer Fensterbank mit Blick zum Meer. In diesem Aquarium lebt neben den üppig vorkommenden Buntbarschen auch ein kleiner, unscheinbarer Guppy, der sich sein kleines, unscheinbares Reich zwischen den Steinen geschaffen hat. Lassen wir einfach mal außen vor, dass in einem real existierenden Aquarium die Überlebensdauer des Guppys wahrscheinlich recht kurz wäre.

Also, zurück zum Gleichnis - diesem netten kleinen Fisch ist bereits einmal aufgefallen, dass es neben dem Leben im Aquarium scheinbar auch noch eine andere Welt gibt. Die Welt hinter der Scheibe. Er nimmt sie nur verschwommen wahr, hat aber das unbestimmte Gefühl, dass da gar noch mehr ist. Die anderen Fische lachen ihn nur aus und aalen sich (na, was für ein treffendes Wort) in den Reflexionen der Glasscheibe, den hübschen kleinen Spiegelbildern ihrer selbst. Dem Guppy wird angeraten, sich zum Doktorfisch zu begeben und sich behandeln zu lassen. Aber trotz aller verordneten Granulatpellets sieht der Guppy weiterhin Bewegung hinter der Scheibe. Schlimmer noch, er meint zudem mittlerweile das Meer erkennen zu können und in den tosenden Wogen der See die unnachahmlichen Stromliniengestalten von Haien zu erkennen. Allerdings ist unser kleiner Kiemenatmer so klug einfach seine Lippen geschlossen zu halten und diese Erfahrungen nicht mit anderen zu teilen.

Irgendwann kommt der Tag, an welchem unser scheinbar leicht verrückter Flossenträger in seinem Briefkasten eine Einladung ins wilde Meer vorfindet. Sie fragen warum der Fisch einen Briefkasten hat? Anhand der Überschrift des Textes werden Sie eindeutig erkennen, dass es sich um ein billiges Gleichnis handelt. Also - ganz egal, wie oft er diese Einladung verwirft, sie kommt immer wieder zurück. Ein wenig so wie die Algen an der Scheibe des Aquariums. Der kleine Guppy fasst sich ein Herz, folgt der Einladung und springt eines Abends aus dem Becken hinaus in die raue, dunkle See. Wie so etwas möglich sein kann? Nun ja…..sehen Sie sich "Findet Nemo" an und erahnen Sie die facettenreichen Möglichkeiten. Aber erneut zurück zu unserer Geschichte: Unser Fischlein findet sich inmitten exotisch anzusehender, jedoch giftiger Feuerfische, gefährlich wirkender Haie und entrückt schwebender Quallen wieder. Leider weiß er nicht so recht, was er von diesen fremden Wesen halten soll, kannte er nur die Buntbarsche und hielt ebenso wie sie alle Meereswesen für Mythen und Legenden. Glücklicherweise halten sich auch andere Guppys im Meer auf, mit denen er einen Blick in diese andere Welt wagen und sich an sie halten kann.

Nach gegebener Zeit, vor Anbruch des Tages, kehrt der Fisch zurück in sein Aquarium (Sie fragen schon wieder wie? Die Antwort ist dieselbe wie zuvor…). Dort lebt er nun mit der Gewissheit, dass es etwas anderes gibt, eine andere Welt, gegen die das bisher für ihn groß erscheinende Fischbecken doch nur wie ein erschreckend winziger Bruchteil der Realität wirkt. Und eben dies auch ist. Wie es weitergeht mit diesem Fischlein? Zumindest ist es froh, dass es über die Buntbarsche im Geheimen schmunzeln kann, welche sich immer noch, da sie nicht anders können, als das stabile Zentrum der Welt sehen, da die Glasscheiben ihnen genau dies vorgeben. Unser Guppy allerdings weiß es besser. Was genau ihm bevorsteht, lässt sich schlecht sagen. Entweder landet er in den Fängen eines lauernden Barrakudas, verstrickt sich in den betörenden Nesselfäden der Quallen, versteckt sich zwischen den geheimnisvollen, grünen Vorhängen des Seetangs oder sucht sich irgendwann kleinere Fische, die er fressen kann.

Wer weiß das schon so genau?


Marie


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