Chroniken » Chroniken VIIII. - Die Zeit der Scherben: Berichte und Erlebnisse vom Hof der Nacht im Jahre 2012 |
2012.11.24 - Γνῶθι σεαυτόν: Scherbenhaufen |
28.11.2012 - 07:08 |
Irgendjemand hat diese Zeit die "Zeit der Scherben" genannt. Sehr schön. Zerschlagenes Porzellan allenthalben. Mit dem Abgang von Nekhrun ist sein Haus ein Schatten seiner selbst, zwar immer noch Oase der Hedonisten, aber Vampire sind Vampire – Kreaturen der Gewohnheit. Respekt kann man sich verdienen, aber die Dauer einer Herrschaft zeigt letztendlich auch an, wie geschickt ein Vampir sich an den Höfen der Nacht bewegen konnte, zumal an den Schaltstellen der Macht. Mit einem neuen Herrscher und einen neuen Namen findet sich nur in der Theorie alter Wein in neuen Schläuchen. Es ist natürlich verständlich, dass sich die Erben der „großen Alten“, reale oder selbsternannte, sich ein warmes Plätzchen ganz oben wünschen, um sich unbekümmert im kalten Licht des Mondes an ihrer Macht berauschen zu können. Aber das ist Eitelkeit, die Eitelkeit von Narren. Sir Archibalds Kalkül mag insofern aufgehen, dass sein immaterieller Kontostand sich schlagartig erhöht hat, denn er ist nun zum Gutteil umgeben von unerfahrenen, jungen Schuldnern, die überdies gezwungen sind, sich auf den Witz und die Geschicklichkeit des einzigen Logenmitglieds zu verlassen, das aus dem Kreis der einstmals fast als göttlich verehrten Ältesten übriggeblieben ist – dem einzigen unveränderten Haus nach dem Abgang der großen Namen. Doch während sich Haus Fox ob merkantilen Geschicks die Hände reiben mag und die Loge sich ergeben in der scheinbaren Unvergänglichkeit ihrer schieren Existenz suhlt, bewegt der Hof selbst sich immer weiter weg von den Werten und Traditionen und denen, die sich selbst deren Wächter nennen, und das in einem Tempo, das einen schwindeln lässt.
Es gibt kaum noch große Häuser. Stattdessen werden wie Treibgut an einer stürmischen Küste neue kleine Häuser angeschwemmt und - noch merkwürdiger - immer mehr einzelgängerische, unsanktionierte Vampire, die für nichts stehen außer sich selbst. Wie geht man mit ihnen um? Niemand stellt sich die Frage. Die Durchsetzbarkeit der Gesetze der Nacht, deren schlichte Formeln nun auf einen unüberwindlichen Wald von Regeln und Gesetzen und Durchführungsbestimmungen und Strafvorschriften aufgeteilt werden, auf eine Bürokratie der Nacht, die in Kürze wahrscheinlich beamtete Blutsauger beschäftigen muß, um dem Paragraphenwald noch Herr der Deutungshoheit zu werden, ist aber abhängig von einem Hof, der sich ihnen beugt, der aus seinen Traditionen und seiner Erziehung daran gewachsen ist. Heute ist der Hof ein Sammelpunkt der Streuner, über deren Erziehung und Tradition wir spekulieren können, die wir aber nicht kennen. Die Ältesten - die sogenannten Ältesten - rätseln nicht einmal darüber, aber sie fürchten sich. [...]
Nekhrun ging zu einem verheerenden Zeitpunkt, und sein Vakuum hätte schnell und energisch gefüllt werden müssen. Ich selbst habe gezögert, zu lange, wie es scheint. Nekhruns Nachlaß war ein Danaaergeschenk, und sein Abschiedsgruß an mich eine vergiftete Spitze. Ich sah ihr Gift, und es ließ mich zögern – verhandeln, als es nichts zu verhandeln gab, nur die Option, zuzugreifen, fest zuzugreifen, um zu verhindern, dass aus dem Wildwuchs der Tatenlosigkeit eine Beliebigkeit der Herrschaft erwächst, die die Loge auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zwingt. In diesem Rat aber werde ich nichts verändern und nichts erreichen können, werde gezwungen sein zum endlosen Kompromiß. Ich mag aber nicht wie Sisyphos zum Fuße des Hügels gehen und zu versuchen, erneut den Stein nach oben zu rollen. Wie jeder aufrechte und praktische Engländer erfinde ich lieber eine Kanone. [...]
Galt Nekhruns letzter Gruß nicht mir? Hat mir Sophie von Kühn nicht ihr Blut vermacht – mir und den Chimären, nicht jenen, die nun ein wenig unbehaglich auf ihren Thronen herumrutschen, die die Gunst der Außenseiter zu erkaufen suchen und Friedrichs Haus dort düpierten, wo der Tod selbst Hof hält? [...]
Die Zeit der Scherben. Mein Geschenk für das angehende Ehepaar ist zerschlagenes Porzellan. Was für eine schöne Tradition, die gepflegt werden muß...
To the end of an era, and to the begin of a new one.
How exciting. |
Lawrence |
gedruckt am Heute, 20:03 |
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