Chroniken » Chroniken X. - Die Zeit des Mondes: Berichte und Erlebnisse vom Hof der Nacht im Jahre 2013
2013.10.06 - Höhenflug und Tiefenrausch
21.11.2013 - 10:59

"Alles ist so leicht, so gut." Grinsend stand Aurelia in der Bibliothek als sie von draußen ein quiekendes Geräusch hörte. Eine der Katzen hatte ein Eichhörnchen geschnappt und spielte nun mit dem Tier. Sie ging langsam zum Fenster um den Jäger nicht zu stören und betrachtete das Spiel, achtete auf jede Bewegung – sah zu wie der Kater sein Opfer immer wieder verletzte und es dann wieder laufen ließ. Doch noch bevor sich das Tierchen in Sicherheit bringen konnte, setzte er erneut zum Sprung an. Mit den letzten Sonnenstrahlen erlosch auch der Lebensfunken dieses kleinen Wesens.

Kurz danach betrat Archibald die Bibliothek und begrüßte Aurelia: "Guten Abend. Hattest du eben etwas gesagt? Ich bin gleich bei Dir. Ich muss noch kurz ins Arbeitszimmer." Mit diesen knappen Worten, halb interessiert an einer Antwort und doch auf sein Vorhaben im Nachbarzimmer konzentriert, ließ er sie für einen Moment wieder allein.

Inzwischen fand sie den Gedanken mit jedem weiteren Tag dem Tod näher zu sein eher beruhigend als abschreckend – gerade nach dem letzten Abend. Man lernt zu schätzen was man hat, vor allem dann wenn andere es nicht mehr haben. "Ach, es ist nichts..."

Sie rief sich nochmals die Worte Archibalds in Erinnerung. Die Worte von denen sie dachte, dass sie sie nie wieder hören würde. "Die Erwählung wird bald erfolgen". Lächelnd lauschte sie dem Zirpen der Grillen und ließ den Blick schweifen. "Ich habe hoch gepokert und gewonnen. Archibald war von der Aufmerksamkeit die ihm am vergangenen Abend zu Teil wurde, positiv überrascht gewesen – um es bescheiden zu formulieren. Und auch die Verlobte dürfte ihre Lektion gelernt haben.", dachte sie.

Langsam wandte sie sich vom Fenster ab, da Archibald von nebenan nach ihr rief. "Aurelia! Was ist das? Diese Haus und gerade dieser Schreibtisch ist mein persönliches Territorium, meine Insel wenn man so will. Und wenn sich diese Insel nicht innerhalb der nächsten fünf Sekunden im selben Zustand befindet wie ich sie gestern zurückließ, dann haben wir – nein, dann hast du ein massives Problem!"

Eilig folgte Aurelia ihm ins Arbeitszimmer. Archibald stand vor seinem Schreibtisch, auf dem sich kreuz und quer ihre Entwürfe stapelten. Man erkennt darauf Skizzen verschiedener Anhänger, Halsketten und Ringe und auch an der linken Wand befand sich statt eines Gemäldes von Gauguin eine Zeichnung. Auf den ersten Blick sah es aus wie eine Art Kronleuchter, doch dieser ist bei genauerer Betrachtung nicht aus Holz oder Metall sondern aus Knochen unterschiedlicher Art und Größe gefertigt. Während Aurelia die Papiere eilig vom Schreibtisch räumte fragte Archibald:"Und was soll das überhaupt mit den Knochen?"

Verärgert wandte sie sich ihm zu. "Was meinst Du damit ‚Was das soll mit den Knochen?`" Mit einem vorwurfsvollen Blick fuhr sie fort. „Dank Deiner Unterstützung kann ich mich nun ganz und gar auf meine Kunst konzentrieren und muss nicht mehr wie bei meinem ehemaligen Arbeitgeber das tun was die 'Menschen'", sie spricht das Wort sehr abwertend aus, "mir vorschreiben. Sie sind nicht in der Lage meine Kunst als solche zu begreifen, zu verstehen. Ich verwertete hier keine ‚Knochen’, vielmehr erhebe ich diese Stücke zu Höherem, schaffe etwas Neues – erhalte es für die Ewigkeit. Man sollte mir dankbar sein!" Bei dem letzten Satz sah Sie Archibald an und wartete auf eine Geste die ihre Aussage bestätigte.

Seine Reaktion auf ihre Ausführung zur Kunst mit Knochen mag in seiner Körpersprache verhaltener ausgefallen sein als sie es sich erhofft hätte. Ein erneutes Mal hörte er sich ihre Ansichten gelassen an, während er beiläufig in den Innentaschen seines Sakkos nach etwas suchte. Ein leises Zeichen von Freude über ihr Engagement und der Zuversicht, dass ihr Leben nunmehr an Normalität gewinnen kann, zeichneten sich dennoch in seinem Gesicht ab. Er vermied es jedoch sie anzusehen, damit sie in ihren Ansichten nicht bestärkt werden sollte. "Für die Ewigkeit? Die Kunstwerke sind für die Ewigkeit gedacht?" Archibald sah sie mit einem verständnislosen Lächeln an. "Ah, da ist sie ja." Er griff nach seiner Pfeife auf dem Schreibtisch und ließ sich danach in seinen Ledersessel fallen. Aurelia folgte Archibalds Beispiel und nahm ihm gegenüber auf einer Couch platz.

"Erschaffen für die Ewigkeit. So ganz 'nekhrunisch' etwa? Ich habe nicht wenige Darbietungen kleiner oder größerer Festivitäten erlebt, bei denen es durchaus nicht verfehlt gewesen wäre, sein Schaffen oder soll ich besser sagen seinen Auftritt als Kunst zu bezeichnen, bis hin zu jenen Szenen, die beileibe nichts für deine Augen gewesen wären. Du wärst damals dafür auch noch zu jung gewesen." Archibald schüttelte leicht mit dem Kopf und rauchte an seiner Pfeife völlig in Gedanken versunken. "Der gute alte Nekhrun. Mir wird, obwohl er schon geraumer Zeit nicht mehr am Hof war, zunehmend bewusst, welche Lücke er doch hinterlässt. Vorher war es so, dass er einfach fort war, aber anstelle seiner Person Eresh trat. Doch sein politischer und gesellschaftlicher Führungsstil, das war schon was. Er war ein Perfektionist, der, wollte er sich inszenieren, es niemals dem Zufall überließ wie wir anderen über ihn dachten und sein Handeln wahrnahmen. Ganz gleich, ob es der Kleidungsstil war wie bei dem Hadestanz oder aber kleine Details. Ein fehlender oder zusätzlicher Ring am Finger oder andere kaum sichtbare Veränderungen an seiner Garderobe, alles schien pointiert auf seine Stimmung oder eine politische Aussage hinzudeuten." Archibald machte eine Pause und blickte Aurelia in die Augen. "Irgendwie schien es mir, als seien Nekhrun und ich zu Beginn, als ich dem Hof beitrat, fremd gewesen und doch miteinander vertraut. Er gehörte gerade nicht zu den Personen, die ihre Sichtweise harsch wie ein Feldherr auf dem Schlachtfeld kundtaten und durchzusetzen versuchten. Hier und da vielleicht ein wenig. Doch er verstand es auch in ruhiger Manier, nicht minder auch auf unmissverständliche Weise, seine Ziele zu erreichen. Er war ein wirklicher Gentleman. Und seine Lebensgeschichte die er uns beim letzten Treffen des Hofs von sich erzählte, bestätigte mich nur in meinen Annahmen. Er hatte es nicht nötig, laut in Erscheinung zu treten. Gestern wie heute würde man ihn als vornehm bezeichnen. Er erinnerte mich an die Kaufleute die ich kennenlernen durfte. An die wirklich alten und mächtigen aus meiner Zeit. Was mir bei einem Besuch in Hamburg vor sehr langer Zeit imponierte und mich mit Nekhrun stark verbunden hat, war folgender Leitspruch der Hanse-Kaufleute: 'Libertatem quam peperere maiores digne studeat servare posteritas' - was soviel heißt wie „Die Freiheit, die die Alten erwarben, möge die Nachwelt würdig zu erhalten sich bemühen. Verstehst du das?", in Richtung Aurelia gefragt.

Ohne auf eine Antwort ihrerseits zu warten, fuhr er fort: "Nekhrun war gerade in den letzten Jahren bedacht darauf, eine Ordnung zu wahren ohne die wir möglicherweise sehr unruhige Zeiten bekommen hätten, von denen wohl niemand wirklich profitiert hätte. Nun gut, es gibt immer Profiteure. Aber in diesem Fall? Ob es tatsächlich zu einem Krieg gekommen wäre und welche Auswirkungen dies gehabt hätte sind jetzt von theoretischer Natur. Entscheidend für mich ist allerdings festzuhalten, dass er jemand gewesen war der sich darauf verstand, rechtzeitig politische Gegenpole auszumachen. Hier und da hat er sie auch voneinander isoliert und auch für seine Ansichten gewinnen können. Er wirkte daher auf mich, wie ein Garant für Stabilität am Hof. Obgleich ihm diese Rolle möglicherweise nicht immer gefiel und wohl auch dem widersprach, wie das Haus Lucius oder die Hardenberger ihn wahrnahmen. Er war und ist nach wie vor für einige Mitglieder am Hof vermutlich ein Freigeist, ein Philosoph oder Lebemann. Nekhrun war indes aber immer aktiv und gegen rein monarchische Strukturen. Viele Ansätze hat es von Isidor gegeben, hier und da vielleicht auch von den Hardenbergern, sofern Friedrich und Sophie politisch aktiv waren. Doch Nekhrun verstand es durch Kalkül und Geschick Personen an einen Tisch zu bringen, die sich sonst nie begegnet wären. Ich war daher weniger erstaunt dass gerade er den Ordo Septem wieder ins Leben gerufen hat. Umso mehr freute mich sein Geschenk. Ein Erbe das er mir übertrug, ebenso wie Lawrence. Nämlich das alte Wissen nicht nur zu bewahren sondern auch weiterzugeben und zwar an die, die damit umgehen können. Ich wünsche mir so sehr, dass meine liebe Ysadora sich seinem Wunsch, der auch zugleich meiner ist, nicht verschließen wird." Archibald sah Aurelia nachdenklich an. "Man kann sich aber nur dieser Aufgabe stellen, wenn im Inneren des eigenen Hauses Frieden herrscht und es eine Einheit bildet, ganz gleich wieviele Verbündete oder der Gegner sich außerhalb dieser Mauern," Archibald deutete in Richtung der Fenster, "befinden mögen. In diesem Zusammenhang bzw. zu diesem Thema fällt mir noch etwas ein. Es ist ein kleiner Vers, von dem ich aber den Autor nicht kenne, vielleicht etwas Indisches:

Wer nichts lernt, weiß wenig oder nichts.
Wer nichts weiß, versteht nichts.
Wer nichts versteht, hat Angst.
Wer Angst hat, schlägt um sich und bringt Gefahr und Leid.
Wissen bringt die Ruhe die wir uns alle wünschen.
Wissen ist eine der Quellen von Kraft und Gelassenheit.
Wissen bringt Erkenntnis,
Erkenntnis bringt Gelassenheit und Geborgenheit,
Geborgenheit bringt Liebe."

Archibald macht eine kurze Pause. "Das meine liebe Aurelia, so trivial es auch scheinen mag, trifft auch auf unser Haus zu. Wie ein Fels in der Brandung oder anders formuliert – wie eine Crew eines Segelschiffes standen die Hausangehörigen Nekhruns wie bei einem Orkan Seite an Seite an Deck und schafften es, das Schiff immer auf Kurs zu halten."

Archibald blickte leicht betroffen, den Gedanken noch nachhängend, auf den Schreibtisch und öffnete die verschlossenen Schubladen.
"Und nun hat dieser Kapitän sein Schiff führungslos zurückgelassen?" sprach Aurelia und blickte ihn fragend an.

"Ob es tatsächlich Führerlos ist wird sich zeigen."

"Faktisch hat er es aber dem Untergang geweiht."

"Das werden wir noch sehen. Wo ist eigentlich das Schriftstück, welches Nekhrun mir vermacht hat?" Archibald öffnete sehr vorsichtig eine verschlossene Ledermappe.

"Liegt im Safe."

"Hast es Du dir schon einmal genauer angeschaut?"

"Nein, ich habe lieber einen Papierflieger daraus gebastelt." antwortete sie todernst.

"Ach, das war nur ein Scherz!" Aurelia verdreht bei Archibalds tadelndem Blick die Augen.

"Warum verdrehst Du jetzt die Augen? Hättest Du tatsächlich daraus einen Papierflieger gebastelt?"

Aurelia seufzte und antwortete zögerlich: "Nein. Natürlich habe ich es mir schon genauer angesehen. Ich finde es ja interessant...zumindest etwa genauso interessant wie das, was nun in Zukunft mit Astarte, Sin und Ivy passieren wird."

"Warum nur ‚etwa’? Sind Dir die Schicksale der letzten verbliebenen Angehörigen des stolzen Hauses" – "ehemaligen" unterbrach ihn Aurelia.

"Unterbrich mich nicht. Der letzten Angehörigen des Hauses Nekhrun oder Eresh etwa einerlei?"

"Nicht direkt. Nun Ivy hat mir schon etwas leid getan, wie sie mit Astarte und Sin da stand und sich die ‚Ex-Ereshi’ Haus Fox als Soldaten angeboten haben."

"Meine Liebe, das ist eine Respektsbekundung sondergleichen, die Astarte und Sin sicherlich nicht leicht über die Lippen kam. Sie sind uns ja auch keine Gefallen schuldig und sie taten mir auch leid, diese drei Einzelkämpfer."

"Keine Hausälteste mehr, kein Haus Ereseh sondern nun quasi eine ‚Familie’, bis sie sich bewährt haben... das kann Jahre dauern. Ein einst mächtiges Haus liegt nun kraftlos und entmutigt am Boden." "Du hast sie kennengelernt. Wäre nicht ein wenig mehr Respekt angebracht, angesichts des tiefen Sturzes? Ich für meinen Teil würde etwas dergleichen niemals in der Öffentlichkeit wagen anzudenken."

"Spreche ich denn gerade vor der Öffentlichkeit?"

"Ich denke wir verstehen uns, ich möchte nicht dass nur ein Sterbenswort über deine Sichtweise der Dinge diesen Raum verlässt."

"Ich werde schweigen wie ein Grab." antwortete sie. "Nekhruns und Ereshs Fortgang wird wohl eine Narbe hinterlassen... Sylphide hat das sicher gefallen. Sie scheint ja eine gewisse Schwäche für bleibende Verletzungen vom Hof der Nacht zu haben."

"Mir scheint es, als hätte Sylphide nicht unbedingt gefallen daran gefunden, was aus dem Hause Nekhrun geworden ist. Jedenfalls habe ich keine Schadenfreude feststellen können sondern Betroffenheit." Nach einer kurzen Pause fuhr Archibald fort:"Nun, was meinst Du denn zum Thema Narben? Hat denn nicht jedes Mitglied des Hofs die eine oder andere?"

"Sicher, doch Narben gilt es zu verstecken. Lernt man nicht als Kind schon relativ schnell dass man jede Schwäche sofort bereut? Aber Narben vom Hof der Nacht? Nein. Verbale Ohrfeigen, blutige Knie, Kratzer und Schrammen, aber nichts was mich wirklich verletzt hätte."

Archibald guckte sie recht irritiert an und hob eine Augenbraue. Er wirkte ein wenig verständnislos: "Trotz der Dinge, die Du am Hofe schon erlebt hast?"

Darauf antwortete sie "Natürlich habe ich die eine oder andere Person leiden oder sterben sehen, doch das hatten sich die Betroffenen oftmals selbst zuzuschreiben, sind wir ehrlich. Entweder weil sie die Gefahr unterschätzt hatten in der sie sich befanden, was gerade in dieser Gesellschaft tödlich ist, oder sie waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort was für mich wiederum heißt, dass sie unter dem Schutz des falschen Hauses standen - wenn überhaupt! Letztendlich zählt, dass mir noch nie etwas passiert ist."

"Meinst Du wirklich dass Du wichtig genug wärst, dass sich die Gesellschaft um Dich streiten würde?"

"Ist Dir denn nicht Beweis genug, dass es mir gut geht?"

"Ist es nicht vor allem meiner besonnenden Art der Vorbereitung zu verdanken, dass jeder einzelne Abend bis jetzt für dich schadlos verlief?"
Zögerlich antwortete Aurelia "Ein wenig. Im Übrigen, wer würde es auch wagen sich gegen die Häuser Fox und Chimaera zu stellen?"

"Oh doch meine Liebe, ich wüsste einige die den Mut hätten mir die Stirn zu bieten."

"Aber selbst Asphyx hatte es nicht gewagt mich anzurühren als ich ihn von Luke weggezogen habe und auch die Gräfin hatte das Feld geräumt als ich beim Rite de Passage vertraulich mit Dir sprechen wollte."

"Wirst Du jetzt größenwahnsinnig?"

"Ja, und ich genieße es.", sagte sie in einem ironischen Tonfall. "Ich bin übrigens am überlegen, ob ich meinen Erstwohnsitz nicht hierher verlege. Wäre das in Ordnung?"

"Erstwohnsitz? Liebend gerne. Es würde mich freuen. Aber warum möchtest Du dann noch Deine alte Wohnung behalten? Ist die Kulturruine immer noch ein Ort der für Dich einen besonderen Stellenwert einnimmt?"

"Ich möchte einfach noch nicht alle Brücken komplett abbrechen."

"Kann man sich nicht darauf einigen, dass Du dann ein Hotelzimmer nimmst wenn Du dann mal im Süden bist?"

"Nein."

"Hast Du Angst vor meiner Kontrolle?"

„Jaaaaa.", antwortet sie mit zusammengebissenen Zähnen.

"Nunja, ich werde vermutlich auch anders die Kontrolle über Dich nicht ausüben können, wie Du ja weißt."

"Kontrolle nicht ausüben KÖNNEN? Wer kontrolliert hier die Wochenenden von wem?"

"Ich habe bis jetzt nur ein Wochenende begleiten dürfen."

"Ach, begleiten nennst das? Du kannst ja Wilcox fragen, ich weiß dass er Dir Bericht erstattet.", antwortete sie bissig.

"Möchtest Du diese Diskussion wirklich erneut mit mir führen? Muss ich Dir erneut vorhalten, was in der Gegenwart dieser Kreaturen geschehen kann? Ich bin es leid es leid, mir Sorgen um Deinen Gesundheitszustand zu machen, und damit sind nicht nur die Drogen gemeint."

Aurelia setzte sich auf die Couch und vergrub den Kopf in den Sofakissen. "Diese ‚Kreaturen’ sind meine Fr...", nachdem sie die erste Silbe ausgesprochen hatte, hielt sie inne.

"Du wolltest FREUNDE sagen?"

"Nein, ich will gerade nur in Ruhe sterben."

"Ich sehe Du hast dazugelernt was Freundschaften wirklich bedeuten. Offenheit, Ehrlichkeit, Loyalität. Manchmal frage ich mich, wie du all die Jahre in diesem Haifischbecken überleben konntest..."

"Meinst Du jetzt den Hof der Nacht oder allgemein?" sagte die Stimme aus den Kissen.

"Eher im Bezug auf die Kulturruine."

"Ach, das ist doch kein Haifischbecken, das ist ein Aquarium für Zierfische!"

Archibalds Stimme wurde deutlich lauter: "Du unterschätzt noch immer die Gefahr solcher Nachtlokale. Und was ist dann der Hof der Nacht für Dich?"

"Hmm, Streichelzoo?", ein paar Augen schauten ihn abwartend aus dem Kissenberg an.

"Mein liebes Fräulein Rapp, auch Ponys und Ziegen können zubeißen und Dich erdrücken."

"Dann muss man im richtigen Moment den Bock bei den Hörnern packen oder über den Zaun springen. Alles eine Frage der Planung."

"Wessen Planung? Wenn man die Sprache des Hofs noch nicht zur Gänze verstehen und deuten kann, vergleichbar mit einem kleinen dreijährigen Kind, das sich im Streichelzoo zurecht finden muss und somit auf die Hilfe anderer angewiesen ist."

Ihr Kopf versank wieder in den Tiefen der Kissen. "Ich habe verstanden. Bitte verzeih mir." Sie holte tief Luft. "Soviel zum Thema verbale Ohrfeigen am Hof der Nacht."

Archibalds Blick schweifte indes nochmals zu dem Gauguin der lieblos und verkehrt herum auf der Seite an der Wand lehnte.

"Aber Du hast jedenfalls in dem Punkt recht, dass es bislang das Ergebnis umsichtiger Planung war - wenn ich anmerken darf - meiner Planung, dass Dir nichts passiert ist."

Der Kissenberg begann sich wieder zu rühren. "Ist der Hof nicht letztendlich auch nur ein Schachbrett auf dem Figuren hin- und hergeschoben werden?"

"Das Haus zu dem Du Dich zählen darfst ist diesbezüglich derzeit wohl einigermaßen gut positioniert."

Ob des Themenwechsels weg von ihrer Person, setzte sich Aurelia wieder gerade hin.

"War es nicht ein deutliches Zeichen als Nekhrun angekommen war? Der ganze Hof hatte sich erhoben, Haus Fox...blieb sitzen."

"Meinst Du dass dies von den Anderen wirklich so wahrgenommen wurde und nicht mit meiner körperlichen Einschränkung begründet wird?"

"Bei Maljin bist Du schließlich aufgestanden und es ist ja nicht so, dass Du nicht aufstehen kannst. Ist es nicht viel mehr eine Frage des Wollens?"

"Ich denke die Feinheiten bezüglich meiner Person, wann und zu welcher Gelegenheit ich aufstehe, wird der Hof bislang nicht genau wahrgenommen haben. Meinst Du nicht dass das Geschenk Nekhruns in Kombination mit seinen Worten die Stellung unseres Hauses unterstreicht?"

Noch während er sprach, stand Aurelia auf, holte etwas aus ihrer Handtasche und zündete sich eine Zigarette an. Sie blieb am Fenster stehen und nickte ihm zustimmend zu.

"Meinst Du nicht, dass Du mehr auf deine Gesundheit achten solltest?"

"Meinst Du nicht, dass ich eher nicht mehr an Lungenkrebs sterben werde?"

"Ich möchte bei Deiner Erschaffung nicht der Meinung sein, einen Aschenbecher ausgeleckt zu haben."

Aurelia nahm wortlos einen tiefen Zug von der Zigarette und blies den Rauch direkt in Archibalds Gesicht. "Wann darf ich eigentlich auf DEIN Blut schwören?"

"Um zu schmecken wie sich reines Blut anfühlt?"

"Überspann den Bogen bitte nicht."

"Ich denke auch dass die einen oder anderen Wunden durchaus verschlossen werden müssen und ich Dich für heute Abend in Ruhe lasse."

"Zu gütig von Dir, mein Gebieter." Dabei schnippte sie die Zigarette aus dem Fenster. "Es ist doch immer wieder beruhigend, mitzuerleben wie Du jeden am Hof der Nacht umsorgst und verarztest." Mit diesen Worten griff sie nach ihren Unterlagen und blickte Archibald überheblich an.

Mit ausdrucksloser Miene musterte er sie während sie mit ihm sprach. Nach Aurelias letztem Satz beugte Archibald sich nach vorne, sodass sich ihre Gesichter fast berührten. Sein Blick war auf sie gerichtet und zeigte keinerlei Gefühle. Langsam erhob er sich aus seinem Sessel. Bei seiner für sie unerwartet Reaktion wich Aurelia unwillkürlich vor ihm zurück und fasste die Entwürfe mit beiden Händen, drückte sie schutzsuchend an sich. Archibald folgte jeder ihrer Bewegungen und befand sich nun vor ihr, während sie immer weiter rückwärts ging. "Hör auf.", sagt sie verunsichert. Daraufhin antwortete er beiläufig: "Ach die Maske fällt. Jetzt erst machst Du Dir Gedanken dass Dein Verhalten taktlos mir gegenüber gewesen sein könnte. Solltest Du Dir nicht überlegen, wie lange Dein Herz noch in der Lage sein könnte zu schlagen?"
Den Blick weiter auf sie fixiert, trieb er sie langsam vor sich her, bis sie die Wand im Rücken spürte. Aurelia hatte das Gefühl als könnte sie den Blick nicht von ihm abwenden. Ihr Fluchtinstinkt schien aufgehoben zu sein, obwohl die Situation sie momentan in blanke Todesangst versetzte.

Er stellte sich vor sie und kam so nah dass sein Gesicht fast an ihres stieß. Verzweifelt versuchte sie den Kopf wegzudrehen. Archibald beugte sich nach vorne, lehnte sich mit der linken Hand an die Wand und flüsterte in ihr Ohr: "Vergiss nicht, wo Dein Platz ist. Überschätze Dich nicht. Dein Leben hängt von mir ab." Dabei berührte er sie mit der rechten Hand am Hals und strich mit dem Daumennagel über ihre Kehle. "Und es hängt jetzt gerade an einem seidenen Faden."

Zitternd und verängstigt schloss sie für einen Moment die Augen, ließ sich an der Wand herabsinken und starrte ins Leere.
Wie ein lauerndes Raubtier blieb er vor ihr stehen, beobachtete sie und sagte kaum hörbar: "Du solltest dankbar sein dass Du in meinem Haus bist. In einem anderen wärst Du schon lange tot."


Aurelia


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