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Aus dem Leben einer einstigen Erwählten
02.03.2005 - 22:10

Jahr 1.

Tagebuch-Eintrag Zero

Ein weiteres Jahr meines kurzen Lebens ist vergangen. Ein Jahr, in dem sich alles verändert hat. Ich bin nicht mehr einsam.

Hier sitze ich im Park von Schloss Hardenberg. Dichte Nebelschwaden ziehen zwischen den alten Bäumen durch und obwohl es die Mitte des Tages ist, ist es gerade so hell, wie zur Dämmerung. Es ist, als wenn die Nacht sich hier niemals vollständig dem Tag ergeben kann. Zwischendurch hört man ein Geräusch von Knacken im Unterholz. Vögel fliegen wie geflügelte Schatten durch das Zwielicht.

Ich liebe diesen Ort. Um diese Zeit hier, habe ich das Gefühl, völlig alleine auf dieser Welt zu sein. Alleine in einem Schattenreich, begleitet von ein paar lebenden Seelen. Alleine aber nicht einsam.

Letztes Jahr um diese Zeit, als ich inmitten der Trümmer meiner Wohnung und meines Lebens saß, kam Sophies Einladung. Obwohl ich anfangs Angst hatte, sie anzunehmen, weil ich wusste, was sie ist, so erschien es mir doch ein Lichtblick. Ein Wink des Schicksals, ein Weg aus der Finsternis.

Ich erinnere mich noch an die Anreise, als wenn es gestern gewesen wäre. Während ich mich Schloss Hardenberg näherte, bekam ich das Gefühl, in eine andere Welt einzutauchen. Es ist, als wenn das Schloss immer ein wenig außerhalb der Realität steht. Ein Gefühl, was mir vertraut war. Etwas, was hier allgegenwärtig ist, das Gefühl des Todes.

Die Anwesenheit des Todes – so wie meine Erinnerungen mit dem Tod beginnen, so steht er nun auch wieder für die Veränderung meines Lebens. Anscheinend wird er mein treuer Begleiter bleiben.

Sie haben mir ein Zimmer zum Osten hin eingerichtet und überall spürt man das Alter dieses Schlosses. Die Geschichten, die hier passiert sein müssen, scheinen sich selbst zu erzählen. Nachts, wenn man durch die Gänge geht, vorbei an Türen, die für mich verschlossen sind, hört man manchmal Stimmen. Gefühle, wie Angst überkommen mich plötzlich. Doch wenn ich renne, um ihnen zu entfliehen, sind sie hinter der nächsten Ecke wieder verschwunden.

Tagsüber herrscht Stille im Schloss, völlige Stille. Nach meinem Leben in der Großstadt, hätte ich nie gedacht, wie wunderschön die Stille klingt. Manchmal bleibe ich einfach reglos stehen in den Gängen, damit meine eigenen Schritte nicht die Ruhe stören.

Die meisten Nächte verbringe ich mit Sophie. Sophie von Kühn, die Herrin des Hauses. Ihre Wangen sind so bleich, wie Marmor und ihr Gesicht, wie das einer kunstvoll gearbeiteten Puppe. Manchmal möchte ich sie einfach nur ansehen und mich darüber freuen, dass es so etwas Schönes auf dieser Welt gibt. Unsere Gespräche sind unbeschwert und lassen mich oft vergessen, dass sie ein Wesen der Nacht ist. Niemals hat sie mich wegen meiner Unwissenheit ausgelacht und alle meine Fragen über Ihresgleichen immer freundlich beantwortet. Doch es gibt Zeiten, da erscheint es wie ein Spiel mit dem Feuer. Ich hoffe sehr, dass ich niemals ihren Zorn auf mich ziehen werde.

Selten sehe ich IHN. Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg, der Herr dieses Anwesens. Meistens verbringt er seine Zeit hinter den Türen, die für mich verschlossen sind. Ich erinnere mich sehr genau an den Moment, an dem ich ihm das erste Mal begegnete. Ich hatte mich gerade von Sophie für diese Nacht verabschiedet und war auf dem Weg in mein Zimmer. Ich spürte seine Präsenz noch bevor ich ihn sah. Und dann stand er vor mir. Er sah mich an, mit Augen, die keinerlei Gefühl preisgaben. Ich war wie gelähmt, unfähig, mich zu bewegen oder ein Wort zu sagen. Ich weiß nicht mehr, was mich mehr lähmte, die Faszination, die Angst oder das Gefühl, als wenn er mir bis in die Seele schauen könnte. Ein spöttisches Lächeln lag für einen Moment auf seinen Lippen, dann sagte er einfach: „Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich den Gast meines Hauses willkommen heiße.“ Noch immer war ich nicht in der Lage, mich zu bewegen oder ein Wort zu sagen. Ich fürchtete schon, als dumm oder unhöflich dazustehen. Da wandte er sich von mir ab, öffnete eine Tür und meine Starre löste sich auf.
Er wies auf den Eingang des Raumes, eine Bibliothek, und sagte „Ich denke, Ihr wünscht ein Gespräch mit mir“. Ich kann mich nicht mehr an die einzelnen Worte dieses Gesprächs erinnern. Sehr genau jedoch erinnere ich mich an das Gefühl, was mich die ganze Zeit begleitete. Ein Gefühl, was mir bis zu diesem Zeitpunkt gänzlich unbekannt war und der Wunsch, dass dieser Moment niemals endet.

Ja, das ist nun mein Leben hier. Es ist eine gute Zeit hier. Ich habe wieder angefangen zu malen und nie zuvor hatten meine Bilder soviel Intensität. Aber immer wieder quälen mich Fragen: Warum ich? Warum werde ich hier behütet? Warum tun sie das alles für mich? Was sehen sie in mir, was ich selbst nicht sehe? So vieles bleibt mir noch verschlossen. Verschlossen, wie die Türen zu meiner Vergangenheit.

Ein Schatten huscht vorbei. Die Geräusche im Park ändern sich. Der Nebel lichtet sich etwas und es kommt Dunkelheit zum Vorschein. Die Nacht bricht herein. Ein Rascheln ertönt aus der alten Eiche. Es klingt wie ein Flüstern. Ist es die Aufforderung zu gehen oder zu bleiben? Was auch immer, ich sollte aufbrechen. Sophie wird mich in Kürze erwarten.

(Auszug aus dem Tagebuch einer einstigen Erwählten des Hauses Hardenberg)


Cay


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