Chroniken » Chroniken II. - Die Zeit des Wandels: Berichte und Erlebnisse vom Hof der Nacht im Jahre 2005
2005.08.13 - II. Akt: Aus dem Leben eines Toten
17.09.2005 - 10:25

Der Regen prasselt unerbittlich auf die zu Kreuze kriechende Erde. Seit Tagen schon hüllen fliegende Wolkenteppiche den unbeschwerten Augusthimmel in ein nassgraues Leichentuch; machen den Tag… zur Nacht.

Es sind die Tage, denen ich fern bleibe… und mich lieber des Nachts auf die Suche begebe. Eine Suche nach Antworten. Eine Suche nach Wissen. Die Suche nach… ihnen.

Unnötig zu sagen, was jener dunkle Ball im winterlichen Ruhrgebiet in mir ausgelöst, welche Alpträume und Ängste er in mir zum Vorschein gebracht hat. Denn die dunkle Zeit der Ängste war nun vorüber. Es dürstete mich, mehr zu erfahren.

Es dürstete mich.

Doch an diesem Morgen war alles anders. Trübes Licht sickerte durch die Jalousie und verriet mir, dass der Tag noch jung war. Was war geschehen? Wie benommen richtete ich mich auf; stützte dabei fast unwillkürlich meine Hände auf der Unterlage ab. Ein Schmerz aus tausend Messern stach mir in den Arm und schoss mir in den Schädel. Ich sackte in meinem Bett zusammen und hielt mein linkes Handgelenk umklammert. Und dann vernahm ich es wieder. Das schartige Knarren einer rostigen Tür irgendwo in meinem Gehirn. Thalamus. Das Tor zu unserem Bewusstsein, hinter welchem alle vom Wahnsinn infizierten Gedanken, sämtliche Hirngespinste meines Lebens im dunklen Abyssos schlummern. Dieses Tor wurde nun geöffnet. Die vergangene Nacht! Ich erinnerte mich wieder.
Es hatte ausnahmsweise die Sonne geschienen, als ich mich am frühen Abend auf den Weg machte. Eine Sonne, grad wie eine Mutter, die ihr Kind in die weite Welt entlässt und voller Sorge ein „Pass auf Dich auf!“ hinterherschickt.

„Ich bin kein kleines Kind mehr.“, dachte ich bei mir und bog in den „Drive In“ ein, wo ich mir einen großen Milchshake mit Vanillegeschmack bestellte. „Bis auf meine Lust auf Milchshake.“, musste ich eingestehen.

Als ich kurze Zeit später die Stadt auf der Autobahn verlies und mit den letzten Sonnenstrahlen im Rückspiegel geradewegs in Richtung Osten fuhr, wo sich die Welt schon in ihr dunkelgraues Abendkleid gehüllt hatte, beschlich mich zum ersten Mal wieder dieses Gefühl, welches ich schon seit langem aus meinem Herzen verbannt glaubte. Doch war es noch zu diffus, um es zu erkennen. Es war nicht mehr als eine Ahnung von einem Gefühl, oder besser… Vorahnung? Die Eröffnung eines Clubs hatte mein Interesse geweckt. Vielleicht war es die stille Hoffnung, mehr von dem zu erfahren, was mir zu Beginn des Jahres widerfahren war und mich des Nachts kaum noch schlafen lässt. Vielleicht war es auch der Name der gleichsam anmutigen, wie rätselhaften Gastgeberin, die mich zu diesem Abend geladen hatte. Ein Name, der mir in der endlosen Dunkelheit meiner Erinnerungen sehr wohl vertraut zu sein schien.

Camilla.

Was für ein Tor ich war, nicht in der Lage, die Zusammenhänge zu begreifen.

Der Milchshake lag kalt in meiner Hand. Ein Gefühl, welches mir zu späterer Stunde nochmals zuteil werden sollte. Ich musste sehr angestrengt an dem Halm saugen, um mit süßem Genuss entlohnt zu werden.

„Trink! Trink, und koste das süße Elixier!“

Es stellte sich heraus, dass Camilla eine Vorliebe für vorjahrhundertliche Südstaatenromantik zu haben schien, was die Inneneinrichtung des Clubs betraf. Vergilbte Fotooriginale, die ein frühes New Orleans darstellten, zierten die warm getünchten Wände, mit Gold verzierte Spiegel und breite Sofas in sattem Rot luden den Betrachter zum Schwelgen ein. Das gedämpfte Licht bildete in seinen verschiedenen Farbfacetten einen provokant charmanten Übergang zum Tanzbereich mit seinem verchromten Fußboden und Elektromusik aus den Lautsprechern. Interessant waren vor allem verschiedene Artefakte aus der persönlichen „Schatztruhe“ der Gastgeberin, die sich an verschiedenen Stellen im Club befanden. Leider sollte es nicht dazu kommen, sie nach der Bedeutung dieser Erinnerungsstücke zu fragen. Denn noch mehr als alles Gold und Rot dieser Räume wurde ich von der geheimnisvollen, aber nicht unbekannten Präsenz der zweifellos edlen Gesellschaft angezogen, welche zu dieser Stunde dort aufhältig war. SIE waren zweifelsohne unter ihnen. Manchmal glaubte ich den ein oder anderen von ihnen wieder zu erkennen. Ihre energetische Ausstrahlung ließ mich allerdings zunächst keinen klaren Gedanken fassen. Ich drehte mich in einem Karussell aus Gold und Dunkelrot und ihre leisen Stimmchen waren der Wind in meinen Ohren.

Während meiner Fahrt stiegen verschiedene Charaktere hinzu, mit denen ich ins Gespräch kam. Die Bemerkenswertesten waren sicherlich Seraphine aus dem Haus Caesar, die mit ihrem Hang zu materiellen Dingen und nicht zuletzt mit ihrem Erscheinungsbild gerade bei älteren Anwesenden für Bestürzung sorgte – Morgana de Severin, deren hinreißende Augen mühelos in der Lage waren, Witz, Charme, Leidenschaft, Trotz und Hass gleichzeitig auszustrahlen. – Die charismatische Isabell von Xanten, Älteste des Hauses Lucius und Morganas Mutter – und ein junges Mädchen, welches sich als Tatjana vorstellte und mit ihrem sympathischen russischen Akzent ganz begeistert von der Vorstellung berichtete, so wie SIE zu sein. Unsterblich. Ich bemerkte in der ganzen Unterhaltung nicht, dass sich das Karussell immer schneller und wilder drehte und die Fäden der Nacht ein immer dichteres Geflecht woben, bis schließlich die ersten Unvorsichtigen darüber stolperten und aus dem Kreis der Lebenden geschleudert wurden. Die Menge war sichtlich perplex. Was immer sich Camilla für diesen Abend auch ausgedacht haben mochte, einen derartigen Verlauf hatte sie nicht vorhergesehen… oder doch?

Als ich nach allen Wirrungen wieder auf Tatjana stieß, zeigte sie sich mir seltsam abwesend. Doch hatte ich an mir irgendetwas, das ihre Aufmerksamkeit auf mich lenkte. Die nannte mich beim Namen und ergriff meine Hand, streichelte und begutachtete interessiert mein linkes Handgelenk. Ich hätte verstehen und fliehen sollen, als ich bemerkte, wie kalt ihre Berührungen waren. Doch zögerte ich einen Augenblick zu lang. Ihr Griff wurde unmenschlich stark und ich konnte mich nicht dagegen wehren, dass sie meinen Arm zu ihrem Mund führte. So sehr ich mich auch herauszuwinden versuchte, es gelang mir nicht.

„Trink! Trink, und koste das süße Elixier!“

Als sie ihre Zähne in mein Fleisch grub, war mir, als zöge mir jemand den Boden unter den Füßen weg. Ich stieß einen kurzen Schrei aus und sie ließ von mir ab. Schweißgebadet stürmte ich davon…

Ich fuhr heim, ohne mir dessen bewusst zu sein. In meiner kleinen Wohnung saß ich eine Unendlichkeit da, hörte alte Schallplatten und starrte auf den Boden, bis mich schließlich der Schlaf barmherzig in seine Arme nahm. Ich erinnere mich noch an die letzten Zeilen aus den Lautsprecherboxen:

"I touch the fire and it freezes me,
I look into it and it´s black.
Why can´t I feel, my skin should crack and peel:
I want the fire back.
Now through the smoke she calls to me,
I have to walk across the flame
To save the day, or maybe melt away
I guess it´s all the same…"


Argus


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