Chroniken » Chroniken III. - Die Zeit des Rades: Berichte und Erlebnisse vom Hof der Nacht im Jahre 2006 |
2006.03.12 - Tagebucheintrag von Pia |
15.03.2006 - 11:02 |
Schrecken, Tod, Entsetzen, Angst!
Erst jetzt, zwei Wochen danach, kann ich mich dazu überwinden, den Abend auf diesem "Bacchanal-Fest" revue passieren zu lassen.
Es war so grauenhaft! So schrecklich und entsetzlich!
Erst jetzt, nachdem ich zwei Wochen wieder dem normalen Alltagsleben gefolgt bin, kann ich mich hier hinsetzen und diese Zeilen schreiben ohne dabei völlig von meinen Gefühlen übermannt zu werden.
Doch auch die zwei vergangenen Wochen Normalität (Realität?) können leider nicht ungeschehen machen, was passiert ist.
Oh, ich wünschte, ich wäre Santiago nie begegnet! Das habe ich ihm sogar auf dem Fest gesagt. Und er war nicht beleidigt, sondern hat mich nur verständnisvoll angesehen und mir gesagt, dass es ihm Leid tut. Er war ja auch dabei gewesen und hatte alles mitbekommen, was an dem Abend geschehen war.
Wenn ich doch nur mit irgendwem darüber reden könnte! Nicht einmal Achim kann ich erzählen, was mich so bedrückt und andauernd meine Gedanken fesselt. Niemand würde verstehen was ich sage, geschweige denn, glauben, was ich sage. Achim sagt, ich würde in letzter Zeit so abgelenkt und geistesabwesend wirken. Kein Wunder, wie nur könnte ich das nicht sein nach diesem Abend?
In neun Tagen habe ich Geburtstag. Oh, diesen Geburtstag werde ich feiern wie keinen anderen, denn beinahe hätte ich ihn nicht mehr erlebt! Ich hoffe nur, dass ich mich genug ablenken kann, um meinen Geburtstag überhaupt richtig genießen zu können.
Ich kann meine Gedanken einfach nicht von dem Abend und dem "Hof der Nacht" losreißen. Wie auch? Dazu ist einfach zu viel passiert. Aber was mich entsetzt ist die Tatsache, dass ich mich derart zu Vicente hingezogen fühle. Und auch, dass ich solche Wesen wie Nekhrun, Calliope und Bastet schrecklich vermisse. Ich habe mich bei Calliope so geborgen gefühlt! Warum? Sie ist doch auch eines dieser "Wesen der Nacht" (mich scheut es immer noch "Vampir" zu schreiben, so richtig habe ich das noch immer nicht geschluckt, dass es sie wirklich gibt).
Wie kann ich nur? Zwei Abende mit "Ihnen" und zweimal hätte ich beinahe den Tod gefunden! Und dennoch diese starken Gefühle! Warum? Was ist nur mit mir passiert?
Vielleicht sollte ich einfach mal der Reihe nach berichten:
Nach dem Abend auf Haus Morgenröte war ich himmelhoch jauchzend, wenn auch ängstlich, da ich auch an diesem Abend beinahe den Tod gefunden hatte. Trotzdem war ich glücklich wie nie zuvor, hatte das Gefühl, endlich das gefunden zu haben, was ich insgeheim immer gesucht hatte, und freute mich auf den kommenden Abend.
Aber diese Freude war falsch! Absolut falsch, denn was mich erwartete war alles andere als erfreulich!
Vicente war mit Devon und mir schon mal vor gefahren, da die anderen noch auf Nekhrun warten mussten. Anscheinend scheint es eine seiner Eigenarten zu sein, andere gerne auf sich warten zu lassen. Aber das nur am Rande.
Wir kamen also zu dritt an und betraten den kleinen Saal. So viele Eindrücke, die da auf mich einprasselten! Und das, obwohl noch nicht alle Gäste anwesend waren.
Die Gäste waren sehr wunderlich in ihren Erscheinungsbildern. Einer trug ein mittelalterliches Kettenhemd mit dazugehörendem komplettem Outfit mit Schwert und allem drum und dran. Dann gab es Damen in äußerst pompösen und wunderschönen Ballkleidern, Herren in noblen Anzügen, einer sogar in der Tracht der schottischen Highlands, wirklich, es sah aus wie ein Potpourri der verschiedenen Epochen bis zurück ins ferne Mittelalter. Zuerst war ich sehr verwundert, aber dann wurde mir klar, dass es sich bei den Gästen um Vampire handeln musste, die sich im Stil der Epoche kleiden, in der sie einst gelebt hatten.
Aber es waren so viele! Gibt es wirklich so viele von „Ihnen“?
Ich muss zugeben, so schrecklich der Rest des Abends auch war, die Gäste in ihrer Erscheinung und ihrem Aussehen waren eine wahre Wonne für das Auge! Zunächst genoss ich diese Eindrücke, hatte ich doch schon immer einen ausgeprägten Sinn für Schönheit und Ästhetik. Damit kam ich, solange ich noch nicht dem Schrecken und der Angst verfallen war, an dem Abend auf meine Kosten als Genießerin.
Jetzt, da ich hier sitze und schreibe, fällt mir auch wieder ein, dass ich ja diese Tatjana gesehen hatte, als sie den Saal betrat! Ich hatte auf Grund der weiteren Geschehnisse ganz vergessen, dass ich sie an dem Abend gesehen hatte. Ich hatte mir noch vorgenommen, sie anzusprechen, denn schließlich war sie diejenige, durch die Santiago auf mich aufmerksam geworden war. Verflucht soll sie sein! Mussten sie und Santiago ausgerechnet am selben Tag wie ich in der Havanna Lounge sein?! Aber das ist wohl weder die Schuld von ihr noch von Santiago.
Doch zurück zu den Ereignissen des Abends:
Devon und ich saßen kaum mit Vicente an einem der Tische, ich war noch damit beschäftigt, all diese fremden Eindrücke zu verarbeiten, die auf mich einprasselten, als einige wenige der Anwesenden, sie scheinen mir im Nachhinein in irgendeiner Weise eng mit dem Schicksal verknüpft zu sein, sich an die Gäste wendeten. Sie sprachen von einem Opfer, welches noch vor Mitternacht dargebracht werden müsse. Ich versuchte noch zu verstehen, was dort vor sich ging, als ich, ehe ich mich versah, von einem dieser seltsamen Schicksalswesen an der Hand genommen und in die Mitte des Saales mitgenommen wurde. Erst jetzt wurde mir so ganz langsam klar, was mit mir geschah: Ich sollte eine der Erwählten sein, welche als Opfer in Frage kamen!
Ich oder ein anderer der zehn Menschen, die nun in der Mitte des Saales standen, sollte geopfert werden!
Getötet! Ermordet!
Ich hatte solche Angst!
Womöglich sollte ich noch am selben Tag sterben! Und das aus einem Grund, den ich nicht verstehen konnte! Was passierte da mit mir? Was war nur los auf diesem Fest? Wo war ich hier nur hinein geraten?
Der Preis, sollte die Opferung nicht vor Mitternacht geschehen, sollte ein noch höherer sein als das Leben eines einzigen Menschen, was genau der Preis sein sollte, ist mir bis heute schleierhaft geblieben. Es sollte jedoch alle anderen betreffen, welche auf dem Fest waren, soviel habe ich verstanden.
Ich hatte solche Angst!
Ich stand da, in der Mitte des Saales, all diese fremden Gesichter starrten mich an, ich kam mir schon jetzt vor wie das Lamm auf dem Opferaltar.
Ich hatte solche Angst!
Ich blickte zu Vicente rüber, aber der schien zunächst nicht sonderlich beeindruckt von der Situation. Zum Glück war Saskia da, eine Erwählte, die ich am Abend zuvor auf Haus Morgenröte kennen gelernt hatte. Auch sie war eine der zehn „Opferkandidaten“. Auch sie hatte Angst. In unserer Angst klammerten wir uns beide aneinander. Saskia versuchte mich zu beruhigen. Sie sagte, nicht ich wäre es, die heute den Tod finden sollte, sondern sie selbst würde heute sterben. Wie konnte sie so etwas nur sagen!
Wie am Abend zuvor fühlte ich mich wie in einem bösen Traum und hoffte, bald aufzuwachen.
Aber es war kein Traum, nein, es war real! So unglaublich mir das jetzt, nach zwei Wochen, auch erscheinen mag. Es war real!
Wenn Saskia nicht da gewesen wäre, ich wäre einfach zusammengebrochen! Zum Glück kam Vicente dann doch irgendwann zu mir und tröstete mich durch seine Umarmung und beruhigende Worte, die er mir zuflüsterte. Dadurch fühlte ich mich schon wieder besser, die Todesangst war zwar noch nicht gebannt, doch ich hatte immerhin wieder das Gefühl, aus eigener Kraft stehen, reden und handeln zu können. Mir kam der Gedanke an Flucht, einfach raus aus dem Gebäude, in ein Taxi, nicht zurückblicken, alles vergessen und nie nie nie wieder daran denken. Diese Möglichkeit wurde jedoch ganz schnell zunichte gemacht: Jemand teilte allen Anwesenden mit, dass alle Ausgangstüren fest verschlossen seien und nicht geöffnet werden konnten.
Ich saß in der Falle! Wie eng und bedrückend kam mir der Saal nun auf einmal vor!
Die Schönheit und Ästhetik war völlig vergessen.
Plötzlich ein Licht am Horizont, wenn auch nur für mich und fünf andere der „Opferkandidaten“: Die vier Herren, die bei den zehn dabei waren, entschieden, dass die Frauen frei seien, und einer von ihnen selbst das Opfer sein solle. „Frauen und Kinder zuerst.“ Welch Edelmut! Das es so etwas heutzutage noch gibt!
Leider hatte ich an dem Abend nicht mehr die Gelegenheit, mich bei den vier Herren zu bedanken, das bedrückt meine Seele etwas, zumal einer von ihnen am Ende des Abends tatsächlich sterben sollte, doch nur um danach wieder erweckt zu werden. Doch dazu später mehr, ich möchte bei der richtigen chronologischen Reihenfolge bleiben.
Ich stand nicht mehr auf der "Opferliste", aber das änderte nichts an der Tatsache, dass "der Abend für mich gelaufen" war. Und es wurde schrecklicher und schrecklicher...
Plötzlich wurde eine Trage hereingebracht mit einem anscheinend toten Kreuzritter. Seine Hand war blutverschmiert, er regte sich nicht, lag nur da...
Man sagte mir, dass es sich um einen Vampir handelt. Okay, das habe ich verstanden, aber warum war er tot? Calliope hatte mir am Abend zuvor erklärt, dass Vampire nur durch Feuer und Sonnenlicht "sterben" (schließlich sind sie ja eigentlich schon tot) können. Was war denn nun mit diesem los? Ich habe das alles nicht verstanden, und schließlich habe ich mir auch keine Mühe mehr gegeben, es zu verstehen, mein Verstand war schon hinreichend überbeansprucht und ich hatte das Gefühl, dass er mir nach und nach entglitt. Hatte ich schon da einen Schock? Das erscheint mir im Nachhinein nur wahrscheinlich.
Das Gefühl, dass ich den Verstand nicht mehr halten konnte, begrüßte ich sehr und unterstützte es noch, indem ich mir einen Wein nach dem anderen bestellte. Ich versuchte so, das Gefühl des Gefangenseins zu unterdrücken, und kurzfristig gelang es mir sogar, fast fröhlich zu sein und zu tanzen. Aber im Nachhinein erscheint es mir eher, dass es aus Verzweiflung, und nicht aus Freude passierte, dass ich mit einem dieser seltsamen Schicksalswesen tanzte.
Doch die geringe Gemütsberuhigung durch die Ablenkung durch Alkohol und Tanz sollte nicht lange vorhalten. Vicente schien mich nicht mehr zu kennen. Nicht nur das, er war sogar sehr abwesend und unhöflich zu mir. Dass er sich in den ersten Stunden des Abends mit all den anderen Leuten beschäftigen musste, ist ja durchaus verständlich, aber dass er mich so derart abweisend behandelte, verstehe ich nicht, bis heute nicht, und eine Erklärung dazu gab er mir nicht. Nur diese: „Du musst nicht alles verstehen.“
Aber ich will verstehen! Was war los? Am vorangegangenen Abend hat er mich erwählt, war zärtlich und gab mir das Gefühl, wichtig für ihn zu sein, und schon am nächsten Tag ignorierte er mich völlig? Schämte er sich für mich? Falls ja, warum? War etwas geschehen, was ich nicht mitbekommen hatte? Oder hatte es damit zu tun, dass ich als mögliches Opfer ausgewählt worden war?
Auch das entzog sich völlig meinem Verständnis und machte mich sehr traurig.
Wieder ein Grund für mehr Wein.
Ich suchte Trost in dem Wein und der Gesellschaft von Nekhrun, Saskia, Devon, Bastet und Calliope. So saß ich auch mit ihnen zusammen, als ein grauenhaft langweiliges Theaterstück aufgeführt wurde. Immerhin, es brachte mich auf andere Gedanken und lenkte etwas von den bedrückenden Gefühlen der Enge und des Gefangenseins und der Irritation und Trauer wegen Vicentes Verhalten ab.
Nach dem Theaterstück blieb nicht viel Zeit, sich um andere Gäste zu kümmern. Ich hatte gedacht, dass ich nun, dank der beruhigenden Wirkung der Anwesenheit von Nekhrun, Calliope und Bastet, endlich einmal Tatjana ansprechen könne, aber daraus wurde nichts. Kaum war das Stück zu Ende, wurde dieser tote Untote wieder herein gebracht, und man debattierte darüber, wer ihn nun wieder erwecken solle. Wieder erwecken? Was passierte nun schon wieder?! Die angenehm beruhigend benebelnde Wirkung des Weines war schlagartig verflogen ob des Schreckens und der Angst, was nun passieren würde.
Und tatsächlich! Man begann ein obskures Ritual mit Feuer, Blut, Kerzen und seltsamen Beschwörungsformeln, die tatsächlich dazu führten, dass dieser Kreuzritter plötzlich auffuhr, aufstand und urplötzlich einen Menschen anfiel und diesen anscheinend töten wollte.
Der Verlauf des Rituals war so befremdlich! So obskur und sonderlich, so beängstigend! Meine Angst wuchs von Minute zu Minute. Wenn nicht Calliope da gewesen wäre, und mich immer wieder durch ihre Berührung und einfach durch den Kontakt meines Körpers zu ihrem beruhigt hätte, ich weiß nicht, was ich getan hätte! Ich kauerte mich immer mehr zusammen. Am liebsten wäre ich in die allerletzte Ecke des Saales gekrochen, um nicht zu sehen, was da passierte.
Und ich saß so nah an dem Ort des Geschehens! Ich wollte weg aus dieser Nähe, doch das hätte bedeutet, weg von Calliope, und dazu war ich nicht in der Lage, ich war so verstört, ich konnte einfach nicht begreifen, was da passierte. Wieder einmal, das wievielte Mal an diesem Abend konnte ich nicht begreifen, was um mich geschah?
Ich weiß es nicht.
Ich hatte schreckliche Angst, doch konnte ich meinen Blick dennoch nicht von dem Ritual abwenden. Irgendwie war es auch faszinierend in seiner Unverständlichkeit.
Auch jetzt, da ich zwei Wochen Abstand dazu gewonnen habe, kann ich noch immer nicht begreifen, was dort mit diesem Ritter, sein Name ist übrigens Lothringus, geschehen war. Man sagte, er sei in der Hölle. Aber es gibt doch gar keine Hölle! Oder doch? Falls nein, wo war er dann? Fragen, Fragen, Fragen...
Nachdem dieses Ritual vorüber war, und ich mich wieder etwas beruhigt hatte, wollte ich mich gerade mit Saskia zusammen um einen der vier kümmern, von denen bald einer geopfert werden sollte: Ein gut aussehender Mann in der Tracht der schottischen Highlands. Er gefiel mir, und Calliope sagte, er wolle spielen. Das nahm ich als Einladung zu einer willkommenen Ablenkung von meinem Unwohlsein.
Mit einem gut aussehenden Mann spielen, endlich durfte ich an dem Abend mal etwas tun, was ich kann!
Aber auch daraus wurde nichts, denn die Opferung sollte nun endlich durchgeführt werden. Wirklich und wahrhaftig, die machten Ernst! Die wollten wirklich einen der vier Männer töten! Einfach so!
Durch eine Art Spiel wurde entschieden, wer das Opfer sein sollte, und, auch das noch! Es sollte Argus geopfert werden! Ausgerechnet jemand, den ich erst am Vorabend kennen gelernt hatte! Er war noch so jung! Warum sollte er sterben? Das konnte doch nicht sein?!
Aber doch: Es geschah, er wurde getötet. Nur um kurz danach wieder erweckt zu werden. Wie?
Ich weiß es nicht. Auch das entzieht sich wieder einmal völlig meinem Verständnis. Aber eine Dame in einem wunderschönen weißen Kleid scheint das initiiert zu haben, jedoch nicht, ohne darunter fürchterlich zu leiden und zusammen zu brechen. Schrecklich, wie sie da lag!
Und wieder: Was passierte hier? Ich war jenseits von Verstand und Begriff, jetzt, inzwischen nach all diesen Dingen, die passiert waren, fühlte ich mich so, als wäre mein Verstand einfach nicht mehr vorhanden.
Wurde Argus zu einem Vampir gemacht? Ich habe das genaue Geschehen von meinem Platz auf der Treppe nicht verfolgen können, war aber auch zu ängstlich und erschrocken, um näher heran zu gehen, und mehr mitzubekommen. Vielleicht hat Vicente ja Recht: Ich muss nicht alles verstehen.
Nach diesem Ereignis was ich einfach nur noch bestürzt und lethargisch. Traurig, erschrocken, verängstigt und furchtbar resigniert, denn ich hatte das Gefühl, ohnehin an meinem Schicksal und allem, was hier, am Hofe der Nacht, mit mir passierte, nichts ändern zu können. Ich fühlte mich ausgeliefert und, wieder wie immer, allein.
Doch dann kam Vicente zu mir und umarmte mich. Er konnte mich etwas beruhigen.
Er kam wieder zu mir zurück! Er, umarmte mich und flüsterte mir tröstende Worte zu. Ich verlor mich wieder einmal in seinen Armen.
Doch er sprach auch von erschreckenden und zugleich doch faszinierenden Dingen: Er sprach von der Möglichkeit, Menschen zu Vampiren zu machen, ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mich meinte, und ob mir dieser Gedanke gefallen würde.
Jetzt, mit einem Abstand von zwei Wochen Normalität, erscheint mir der Gedanke schon etwas anziehend und faszinierend, obwohl ich nicht weiß, wie genau diese Prozedur vonstatten geht, und obwohl ich nicht erfassen kann, was ich dadurch alles verlieren würde. Aber dennoch...
Nun gut, jetzt, wo ich hier in meiner Wohnung sitze und die Sonne in mein Wohnzimmer flutet, fühle ich mich sicher und die Schrecken dieser Nacht scheinen mir sehr weit weg und unreal, da fällt es leicht, so etwas zu schreiben....
Aber zurück zu dem Bacchanal-Fest: Nur etwas beruhigt und immer noch verstört ließ mich Vicente wieder auf die Gesellschaft los, da er sich noch um andere Dinge kümmern musste. Ich lief umher, wagte es aber nur noch mit Leuten zu sprechen, die ich bereits von der Nacht zuvor kannte.
Ich sagte Santiago (oder Sin) wie sehr ich es bedaure, ihn getroffen zu haben. Er sagte, dass es ihm Leid tut. Ich traf Devon, die, wie ich, ebenfalls völlig verstört war. Für sie war es, ebenso wie für mich, erst der zweite Abend am Hof der Nacht. Und dann machte ich den Fehler, Valerie danach zu fragen, wie sie das alles denn aushalten könne, schließlich verkehre sie ja schon länger in dieser obskuren Gesellschaft. Ihre Antwort stürzte mich dann endgültig in eine schwarze Tiefe der Lethargie und der Resignation, aus der ich erst wieder erwachte, als ich mit Devon und Vicente in der Villa Asusena in Berlin war. Valerie antwortete mir, dass die Art und Weise, wie sie von der Existenz der Vampire erfahren habe, sie abgehärtet habe, denn sie erfuhr von der Existenz dadurch, dass Vicente ihren Lebensgefährten zerfetzt habe und sie dann mitgenommen habe.
Das gab mir den Rest für den Abend! Danach war mir alles egal. Ich fiel und fiel und fiel, und erst in Berlin, als Vicente mir wieder seine Aufmerksamkeit schenkte, kam ich zurück in die Realität.
In der Villa Asusena war Vicente so zärtlich und so bemüht um mich, so nett. Und dabei musste ich zunächst immer wieder daran denken, was Valerie gesagt hatte. Dennoch, irgendwie schafft Vicente es immer wieder, dass ich in seiner Gesellschaft alles um mich vergesse und mich völlig der Faszination hingebe, bei ihm, in seiner Nähe und für ihn zu sein.
Und das, obwohl auf dem Bacchanal-Fest, in all den vielen Situationen, in denen ich jemanden brauchte, in denen ich mich nach Nähe, Schutz und Geborgenheit sehnte, war nicht er für mich da, sondern andere Personen. Da waren Saskia, Nekhrun und vor allem Calliope, die mir mit ihrer Nähe Trost spendeten. Ich müsste mich doch viel mehr zu diesen Leuten hingezogen fühlen, als zu Vicente!
Und nun?
Es tut mir so gut, mich in meine Arbeit zu stürzen um alles für den Moment zu vergessen. Seit dem Bacchanal-Fest bin ich so produktiv und inspiriert wie nie! Liegt es daran, dass ich mich so sehr in meine Arbeit flüchte, oder hat mich etwa dieses Wochenende am Hofe der Nacht inspiriert?
Ich habe zwei Wochen gebraucht, um mir darüber klar zu werden, ob ich noch einmal den Hof der Nacht besuchen soll. Ich habe mich dafür entschieden.
Und das trotz des Grauens dieses einen Abends.
Ich weiß, dass es mir wahrscheinlich Verderben und Tod bringen wird, aber ich kann nicht anders, meine Gefühle zwingen mich dazu.
Ich weiß, dass ich noch nicht annähernd die Gefahren erahnen kann, die mir drohen, wenn ich wieder den Hof der Nacht betrete, aber ich habe keine Wahl.
Ist es Todessehnsucht? Oder Faszination der Gefahr?
Ich vermisse Calliope, Bastet und Nekhrun so sehr, ich denke so oft an sie…
Und ich kann mir nicht vorstellen, weiter zu leben, ohne je wieder die Umarmung von Vicente spüren zu dürfen. Ich sehne mich so sehr danach, dass es mich schmerzt, dass es mir in meinem Herzen sticht wie von tausend Nadeln.
Und dann gibt es da noch diese Möglichkeit…
Vielleicht, vielleicht, ja ganz vielleicht gibt es diese Möglichkeit, dass ich meine Mutter wieder finde. Jetzt, bei längerem darüber Nachdenken macht es Sinn...
Sie war es doch, die mir immer und immer wieder sagte: "Pia, Du bist etwas Besonderes, Du wirst Dinge sehen, die den anderen Menschen verborgen bleiben." Hat sie wirklich das damit gemeint, was ich jetzt gefunden habe?
Und jetzt gerade in diesem Moment, wo ich diese letzten Zeilen geschrieben habe, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Das letzte Mal, als ich diese Worte "Du bist etwas Besonderes." hörte, war es aus dem Mund von Calliope, einem dieser "Wesen der Nacht".
Liebste Mutter, Mam!
Wärest Du hier, mit Dir könnte ich reden, Du würdest mir zuhören und mich verstehen!
Du wärest der einzige Mensch, dem ich all das anvertrauen und erzählen könnte!
Aber ich weiß nicht, ob ich Dich wirklich wieder sehen möchte, denn falls sich diese kleine Möglichkeit bewahrheitet, bist Du nicht mehr so wie früher. Nein dann muss ich Dich fürchten anstatt mich in die Geborgenheit Deiner Arme zu begeben. Aber das könnte ich nie, ich könnte Dich niemals fürchten, egal, was passiert ist.
Ich weiß nicht, was ich mir wünschen soll, Dich wieder zu sehen oder lieber, dass Du längst seit vielen Jahren tot bist!
Jetzt, da ich diesen Abend endlich in Worte gefasst habe, ihn endlich verarbeitet habe, geht es mir schon besser Ich hoffe, dass ich in dieser Nacht besser schlafen werde als in den Nächten der letzten zwei Wochen.
Ich habe das Gefühl, dass ich nun wieder dem Schicksal ins Auge sehen kann, was auch immer es mir bringen wird.
Neuen Mut habe ich gefasst, das Ufer wieder gefunden. |
Hathor |
gedruckt am Heute, 19:56 |
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