Chroniken » Chroniken IV. - Die Zeit des Aeons: Bericht und Erlebnisse vom Hof der Nacht im Jahre 2007
2007.02.03 - VI. Akt: Crimen Vitae: Vampire haben keine Hoden
06.02.2007 - 08:42

Mittlerweile bin ich es gewohnt, „Böhmische Dörfer“ zu bereisen. Damit meine ich bestimmte Flecken dieser Erde, mit denen das Navigationsgerät meines Wagens nichts anzufangen weiß. Und als ich - am Rande der Großstadt - von der kleinen, verlassenen Gemeindestraße in einen unbeleuchteten und ausgefahrenen Waldweg einbog, wusste ich, dass mich auch diese Reise am Ende zu so einem Flecken führen würde, der sich bislang tapfer gegen jegliche satellitengesteuerte Reisezielbestimmung gewehrt hat.

Die Suche, auf die ich mich seit Anbeginn meines Treibens am Hof der Nacht begeben hatte, schien kurz vor ihrem Ende. Nicht, dass sie etwas mit meinem Erscheinen in dieser nächtlichen Waldszenerie zu tun hätte.

Jedoch war sie in meinem Kopf allgegenwärtig. Das Geheimnis von Johann von Veil, Urahn meiner väterlichen Linie, stand kurz davor, gelüftet zu werden. Und ebenso der Grund, warum man seine Existenz vor rund einem Vierteljahrhundert aus den Chroniken und den Büchern der Familie zu streichen versucht hatte. Doch waren die letzten Puzzleteile noch nicht zusammengefügt. Die Bedeutung des kleinen, silbernen Fingerringes, welcher mich seit seinem Fund vor rund zwei Jahren stetig begleitete, und welcher Zeuge der bacchanalischen Opferung werden sollte, zu der ich später auserkoren wurde, schien sich ebenso wenig in das Gesamtbild einfügen zu wollen, wie die Alpträume und Geistererscheinungen, die mich seit diesem Nahtoderlebnis mittlerweile ständig heimsuchten.

Was fehlte, war der große Durchbruch - der Aha!-Effekt, wenn Sie so wollen. Meine Gedanken tanzten im Kreis. Was sollte mich anderes interessieren, als dies. Die Bitte von Sophie, sie und unser Haus auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung des Hauses Abbadon zu vertreten, war bei mir daher auf Genervtheit und Unlust gestoßen. Wie viel jedoch die Interessen eines Einzelnen gegen die Interessen eines Hauses wiegen, wurde mir deutlich, als ich mich einige Zeit später über den feuchten, vor Steinen knirschenden Waldboden auf etwas zu bewegte, das sich hinter einigen kahlen Buchen zu verstecken versuchte und von der Straße aus nicht mal zu sehen gewesen war. Es besaß einen kleinen Parkplatz, an dessen Rand einige Strahler ihr kaltes Licht von unten gegen das Astwerk der Bäume warfen, und welcher bereits vollkommen überfüllt war, weswegen nicht zuletzt ich meinen Wagen hatte etwas abseits abstellen müssen.

Angelina, Luzia und Aido waren freundlich und zuvorkommend wie immer, und es tut mir im Nachhinein ein wenig leid, dass ich ihre Mühen und den Stolz, den sie für die Errichtung dieses Hospiz empfanden, nicht wertschätzen konnte. Schnell sah ich Claire, die sich an eine Seite des kleinen Saales zurückgezogen hatte. Ich wandte mich zu ihr, doch ihre Worte waren deutlich und ich wäre sehr naiv gewesen, wenn ich in Anbetracht ihrer Umstände eine andere Entscheidung von ihr erwartet hätte, als die, in Zukunft unserem Haus fernbleiben zu wollen. Doch nun, da es ausgesprochen worden war… nackt.. kalt… hart… traf es mich unendlich tief, sodass ich mich letztendlich wie betäubt erhob und den Saal verlassen musste…

Vor dem Haupteingang traf ich dann auf ein Mädchen, offenbar kein Vampir. Es gelang ihr mit ihren jugendlichen Augen, trotz meiner gedanklichen Abwesenheit, direkt in mein Herz zu blicken so dass ich betete, dass sie wenigstens geprägt sei und nicht hier um…. Ich wischte diese sich anbahnende Vorstellung beiseite und wir plauderten ein wenig. Ihr Name ist Cara. Ich lud sie schließlich ein, mich zurück zur Veranstaltung zu begleiten…

Die folgenden Minuten verbrachten wir damit, uns ein wenig näher kennen zu lernen. Sie werden verstehen, wenn ich, was ihre Person angeht, nicht zu sehr ins Detail gehe. Ich will nur soviel verraten, dass sie eine sehr aufgeweckte und interessante (und darüber hinaus sehr hinreißende) junge Frau zu sein scheint. Je mehr wir uns der eigentlichen Frage näherten - der Frage, der sich alle stellen müssen, die das dunkle Parkett der Nacht zum ersten Mal betreten - umso größer wurde ihr Unglauben und ihre Skepsis. Das passiert bei fast allen, wissen Sie?

Jedoch schien sie eine gewisse Neugier – und möglicherweise auch Vertrauen, das sie mir entgegenbrachte – an der Konversation festzuhalten, bis plötzlich ein gellender Schrei die friedliche Atmosphäre zerriss. Und noch ehe der Schrei verstummt war, wusste ich: Es war Claire! Schnell blickte ich mich um und erblickte sie auf einem Stuhl – zitternd und bebend vor Schmerz und sich krümmend, durch die Hand, die Asphyx ihr auf den Arm gelegt hatte.

Um mich herum wurde es Nacht…

Das nächste, woran ich mich erinnere war, dass ich vor Asphyx stand und dieser vor mir leicht zurücktaumelte.

Ich spürte einen leichten Schmerz in meinem rechten Ellbogen und mich ereilte das Gefühl, etwas Beherztes, aber sehr Unvernünftiges getan zu haben. Anscheinend hatte ich Asphyx tatsächlich geschlagen. Natürlich hatte meine Wucht nicht dafür ausgereicht, ihm wirklich Schaden zuzufügen. Schnell fasste er sich wieder und schnitt eine verächtliche Grimasse, als er auf mich zu kam. Ich hörte, wie ich ihn anbrüllte, ob er sich nun auch noch an mich vergreifen wolle. Und dann tat ich noch etwas Unvernünftiges: Ich ignorierte ihn und wandte mich ab, um Claire zu helfen. Sie saß immer noch auf ihrem Stuhl und wimmerte leise vor Schmerzen. Letztendlich stahl sich Vincente hinzu und sprach auf sie in beruhigendem Ton ein, was ihr tatsächlich zu helfen schien. Es war mein großes Glück, dass Asphyx es dabei hatte beruhen lassen… für den Augenblick jedenfalls...

Ich wandte mich wiederum Cara zu, die diesen Vorfall mit angesehen hatte und nun verängstigt in einer Ecke des Saales stand, die Arme fest umschlungen, den Rücken an die Wand gepresst. Fortan bemühte ich mich ständig um ihr seelisches Wohl und muss hierbei allerlei Versuchen Umstehender, sich an dem Gespräch zu beteiligen, mit scharfer Zunge entgegnet sein, sodass letztendlich hierdurch der Blick des lidlosen Auges von Xanten auf mich fiel. Doch dies sollte ich erst später bemerken…

Ich wandelte mit Cara durch den Raum, als mich plötzlich eine Hand am Ellbogen ergriff, eisern und schmerzhaft. Ich war nicht in der Lage, mich zu entreißen und drehte mich um, um meinem Gegenüber ins Gesicht blicken zu können, um im Anblick der abgrundtief hässlichen Fratze Asphyxs zu spüren, wie die Knochen meines Ellbogens unter dem brutalen Griff seiner Hand zu bersten begannen. Schmerz, Schreien und ein finsteres Lachen, welches von weit her an mein Ohr zu dringen schien, vermischten sich in meinem Kopf zu einer betäubenden Melange, die mich in die Knie zwang.

Dass es sich bei dem Veranstaltungsort um ein Hospiz handelte, war mein großes Glück. Alte Menschen haben oft Schmerzen. Und so waren in großer Anzahl Tramalong und andere opiathaltige Leckereien verfügbar, die mich für den Rest des Abends wenigstens annähernd bei Bewusstsein hielten. Der komplizierte Bruch hätte sicherlich schnellstmöglich behandelt werden müssen, doch angesichts der großen Sorge um Cara beließ ich es dabei, meinen Arm mit einem Dreiecktuch fixieren zu lassen und zurückzukehren…

Erschütternderweise hatte ich vor meinem Abstecher in die Hospiz-Apotheke mitbekommen, wie sich Claire anscheinend prächtig mit Asphyx unterhalten und zudem Isidor gegenüber erwähnt hatte, dass Asphyx ja doch ganz nett sei. Ich kommentierte dies in ihrer und Isidors Gegenwart mit einem „Pack schläg sich – Pack verträgt sich.“ bevor ich den Saal verließ, um mich behandeln zu lassen.

Möglicherweise war dies der ausschlaggebende Grund für Isidor gewesen, mich ein wenig zur Seite zu nehmen. Möglicherweise steckten aber auch noch andere Beweggründe dahinter. In einer selbst auferlegten Vaterrolle, welche ihm weder passte noch zustand, erinnerte er mich an ein Versprechen, welches er dem Hause Hardenberg angeblich gegeben hatte und nun gütigerweise bereit war einzulösen. Für den Fall, dass ich mich ein bisschen weniger widerspenstig verhalten würde, wollte er mir Rückendeckung zusichern. Als dann schlug er mir vor, mit ihm und Cara zusammen die Heimfahrt anzutreten, damit man sich mal in aller Ruhe mit einander unterhalten könne. In mir kamen bei diesen Worten grausame Erinnerungen an die liebe Fabienne hoch, als sie von niemand geringerem als Isidor vor den Toren unseres Hauses abgepasst und unter größten Schmerzen für etwas zurechtgewiesen worden war, das nur mit der Erklärung zu kleiner Hoden eine Strafe dieser Art gerechtfertigt hätte. Allein aufgrund dieser Geschichte lag mir nichts näher, als ihn in allen Belangen abzuweisen. So informierte ich Sophie über den Verlauf dieses Abends, woraufhin eine unauffällige Limousine Cara und mich sicher nach Hause brachte...

Kurze Zeit später traf ich Sophie in unserem Keller... Wir würden einiges zu besprechen haben…

(Argus - Aus dem Leben eines Toten)


Argus


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