Chroniken » Chroniken VI. - Die Zeit der Toten: Berichte und Erlebnisse vom Hof der Nacht im Jahre 2009 |
2009.01.02 - Manchmal zeigt es sich sehr früh |
02.01.2009 - 01:36 |
Das Fahrzeug lag einsam und dunkel am Straßenrand, wie angespültes Strandgut nach einer stürmischen Nacht. Unaufhörlich prasselte der Regen auf die schwarze Karosse nieder, und zerspritze in abertausend Tropfen, so dass sie im totenbleichen Licht der Laternen von einem gleißenden Schein umgeben wurde. Im Innern war es still. Niemand bewegte sich. Nicht der Graf in der Abendgarderobe, der genervt mit seinen gollumartigen Fingern das Lenkrad umklammerte. Nicht die drei Knaben, die sich - dicht an dicht - auf die hintere Sitzbank gequetscht hatten. Es war, als wäre die Zeit für einen Moment stehen geblieben. Einzig der Regen und das Relais der Warnblinkanlage zeugten davon, dass es nicht so war.
Wo verdammt noch mal blieb dieser dämliche Pannendienst?
Die Frau auf dem Beifahrersitz blickte durch ihr Fenster hinaus in die kalte Novembernacht.
Dort, wo der Regen jedes Leben von der Erdoberfläche fortgespült hatte, verblieben einzig einige bunt leuchtende Neonreklamen. Synthetische Farbtupfer, die durch einen Vorhang aus zerfließendem Glas ins Wageninnere drangen.
„Second Home – OPEN – all night”
Sie legte ein bitteres Lächeln auf. Ein „zweites Zuhause“, für all diejenigen, die in den Stunden der Nacht eine schillernde Welt der Faszination suchen, während die Realität vor der Türe einem grauen, regennassen Asphalt gleicht, auf dem keine Menschenseele freiwillig einen Fuß setzen würde. Dies alles hatte sie bereits erlebt. Und auch damals war es ein Gefühl gewesen, als blicke man durch einen Vorhang, der sich zuerst verschwommen zeigte, einem aber dann immer mehr Details und Facetten dieser schillernden Welt…. Und schließlich all ihre Grausamkeit eröffnen würde. Damals hatte sie diese Welt hinter sich gelassen. Nie würde sie wieder dorthin zurückkehren. Nie würde sie zulassen, dass einer ihrer Lieben zu nah an diese Welt herantrete. Und nie würde sie zulassen, dass sich diese Welt ihren Lieben nähere. Und als sie ihren Blick in die kalte Novembernacht gleiten ließ, ahnte sie noch nicht, wie wackelig ihr Kartenhaus aufgebaut war.
Im Schatten unter dem Vordach vernahm sie eine Bewegung. Eine Zigarette glimmte auf und warf ihr schwaches, rotes Licht auf das Gesicht einer Gestalt. Und trotz dass sich der Regen wie ein Wasserfall über die gläserne Schutzhülle der Limousine ergoss, wusste sie plötzlich, dass diese Gestalt nicht zu dieser kleinen, schäbigen Spielunke gehörte. Sie wusste dies ebenso, wie sie wusste, dass diese Gestalt ausgesprochen feine und makellose Gesichtszüge besaß und dass sich ihre Körpertemperatur nur wenig von der Temperatur dieser Novembernacht unterschied. Sie wusste in diesem Augenblick, dass die Autopanne kein Unglück, sondern Berechnung gewesen war.
Ihr Atem stockte. Die Vergangenheit hatte sie eingeholt. Sie hatte sie eingeholt und stand nun unter diesem Vordach im Schatten und rauchte eine Zigarette. Ihr Versteckspiel war zu Ende. Ein Strom von Gedanken – eine telepathische Brücke – durchschlug das Fensterglas.
„Nun ist es endlich soweit?“ Sie spürte ihre Worte im Kopf.
Die Gestalt zeigte keine Regung. „Es konnte nicht ewig gehen.“
„Konnte es nicht?“
„Du hättest es besser wissen müssen, Diane.“
„Wie lange beobachtest Du mich schon?“
„Zwei Monate.“ Wieder glühte die Zigarette auf. „Ich vermisse Dich, Diane!“
Für einen Moment wandte sie angewidert ihren Blick ab.
„Du hast schon zu tief hinter den Vorhang geblickt. Du brauchst jemanden, Diane! Jemanden, der Dich beschützt.“
„Und das bist zufällig Du!“ Sie schnaubte spöttisch und bemerkte nicht, wie ihr der Graf den Kopf zuwandte. Seine Augen waren bei diesen widrigen Lichtverhältnissen nicht mehr die besten. Und so konnte er beim besten Willen nicht erkennen, was seine Frau dort draußen entdeckt haben mochte.
„Wenn Du einmal das dunkle Parkett betreten hast, dann…!“ Die Gestalt sortierte sich neu. „Sie kommen alle wieder, Diane. Ob sie wollen, oder nicht. Und wenn es soweit ist,…“ Scheinbar bemühte sich die Gestalt, ihre Worte nicht zu hart zu formulieren. „Ich meine, es ist glatt. Du musst Dich vorsehen, dass Du nicht ausrutscht.“
„Ich hasse Dich!“ Wild warf sie den Kopf herum. Erst jetzt bemerkte sie die irritierten Blicke des Grafen.
„Ist alles in Ordnung, Schatz? Du wirktest abwesend. WEN hasst Du?“
„Den… Pannendienst. Mach Dir keine Sorgen. Es ist alles ok.“
Sie log, ohne mit einer Wimper zu zucken, und er kaufte ihr es ab. In all den Jahren hinter dem Vorhang hatte sie eines gelernt. Eine Lüge kann manchmal der einzige Trumpf sein, den Du hast. Und wenn Du ihn spielst, solltest Du ihn gut spielen. Es könnte sonst Dein letzter Trumpf sein. Sie blickte in den Schatten, doch die Gestalt war verschwunden. Einzig die erloschene Glut einer einsamen Zigarette lag auf dem dunklen Asphalt. Die Frau atmete tief durch. Der Schleier würde sich schon bald auf den Geist des Grafen legen. Spätestens morgen würde er sich an nichts hiervon erinnern.
Kurz darauf kam der Abschleppwagen… die Heimkehr… ein üppiger Cognac… und endlich der ersehnte Schlaf. Alle Ängste, alle Sorgen sollten wenigstens für ein paar Stunden der Seligkeit von ihr abfallen. Eingehüllt in einen trügerischen Mantel traumloser Stille, vernahm sie in dieser Nacht keinen Laut. Kein Ticken einer sonst so überlauten Standuhr; kein Wind, der kalt um das Haus pfiff. Kein schartiges Holz konnte ihr mit seinem Ächzen und Knacken verraten, dass nicht alle im Haus in Ruhe und Frieden zu schlummern schienen. Und die zarte Kinderstimme des kleinen, fünfjährigen Arthur, konnte mit ihrem leisen Stöhnen, mit ihrem zaghaften, schwachen Rufen und dem unverständlichen, fiebrigen Gemurmel, nichts über einen Alptraum mitteilen, den sie besser mitbekommen hätte. Dort, wo die Zimmertüre einen Spalt breit offen stand, und die Dunkelheit zum Vorschein kam.
„…Nein! … bitte nicht! … beißen! …Nein, NEIN! …kein Blut! …Mami! …KEIN BLUT! …STERBLICHER! ...GOTT! …kein… Sterblicher…“
(Argus - Aus dem Leben eines Toten) |
Argus |
gedruckt am Heute, 15:23 |
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