Nicht alles, was geschrieben steht,
ist mehr als eine Erzählung.
(aus dem Buch der Zeit, Mercurius, Ordo Arkanum)
Nebelschleier wabern durch die Nacht. Aber ist es wirklich Nacht? Ein seltsames Licht scheint den Nebel von innen heraus zu erleuchten. Eine einsame Gestalt wandert ziellos durch das Zwielicht. Kein Laut ist zu hören, hier an der Schwelle vom Leben zum Tode.
Sierra: "Na toll! Sieht aus wie die A 99 bei Nebel. Irgendwie hatte ich mir die Hölle schon anders vorgestellt. Da hat Lothringus mal wieder Unsinn erzählt."
"Noch bist Du auch nicht in der Hölle..." die Stimme klingt mächtig und doch körperlos. Sie hat dieselbe seltsame Qualität wie der Nebel... Sie ist überall und nirgendwo.
Sierra dreht sich abrupt um. Direkt vor ihm und doch unerreichbar stehen drei Gestalten.
In der Mitte steht ein großer, hagerer Schatten in einer weiten Robe. Er hat die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Der Nebel umfließt ihn, schmeichelt seinen Konturen, als wäre er lebendig...
Zu seiner linken und rechten stehen zwei Silhouetten, den Blick fest auf den Boden gerichtet, den man nicht sehen kann.
Sie sind nur zu erkennen, weil der Nebel sie ausspart, beinahe vor ihnen zurückweicht.
Sierra: "Oh verdammt! Wer seid Ihr denn?"
Der linke Umriss hebt den Blick und sieht Sierra durchdringend an. Sobald er ihn ansieht, erkennt Sierra, dass es ein Engel sein muss: "Wir repräsentieren zwei Interessensgruppen..."
Die rechte Gestalt vollendet den Satz, ihre Stimme perlt über Sierras Haut. Es ist mit Sicherheit der Teufel. "...die an Deiner Seele interessiert sind."
Tod: "Genug der Spielchen, können wir mit der Verhandlung beginnen?"
Sierra: "Großartig! Schon wieder eine. Die letzte ist nicht gerade gut gelaufen."
Der Teufel lacht zufrieden auf: "Ja, das haben wir gesehen."
Der Engel erwidert ruhig: "Die, die wirklich zählt, kommt noch... Bist Du bereit?
Sierra seufzt: "Ich hab heute nichts anderes mehr vor."
Tod: "Nun denn, beginnt. Deine Taten werden in die ewige Waagschale geworfen. Die Seite die sich am Ende senkt, soll das Spiel um deine Seele gewinnen. Doch bedenke, Taten wiegen unterschiedlich viel. Manche sind leicht wie eine Feder, andere schwer wie Blei. Ich sage noch einmal: Beginnt!"
Aus der ewigen Dunkelheit materialisiert sich eine große Waage. Sie hat Messingschalen und altmodisch anmutende Arme aus einem schimmernden Material. In den Schalen wabert der Nebel. Die Nadel steht auf der neutralen Position in der Mitte.
Teufel sagt erfreut: „Na, dann fangen wir mal an. Was haben wir denn da? Richtig... Also, da hätten wir, mit acht Jahren, die tote Maus in Stefanie Ulmers Schultasche... und die verschüttete Tinte über ihren Hausaufgaben... " Der Teufel macht eine dramatische Pause: "Vorsätzlich!“
Sierra erinnert sich. Ganz deutlich steht die Szene wieder vor seinem geistigen Auge. Einen Moment hebt er die Hand und fährt durch die seltsamen Nebelschwaden, als könnte er das Bild greifen. Er spürt die Emotionen von damals... wie... mit leicht kindlicher Stimme rechtfertigt er sich. Das war ja alles ganz anders...: „Das war aber nur weil sie mich ausgelacht hat, als ich ausgerutscht und mit meinem Gesicht voran in die Pfütze gefallen bin.“
Der Teufel, welcher kurz aufhört zu reden, wendet sich Sierra zu: „Du gibst also zu, das aus Zorn getan zu haben?“
Sierra wischt sich über die Augen: „Äh.. na ja! Zorn ist vielleicht ein wenig übertrieben...“
Teufel: „Zorn! Eine Todsünde! Großartig! Das können wir so notieren.“
Der Teufel fährt fort mit der Aufzählung von Sierras Sünden.
Sierra murmelt zu sich selbst, während er sich über den Nacken streicht: „Das wird ein langer Abend.“
Teufel: „...mit zwölf hat er ein Comic Buch vom Kiosk gestohlen, im selben Jahr hat er noch den Auspuff des Nachbarn Hermann mit einer Kartoffel verstopft! Mit dreizehn...seiner Lehrerin..."
Der ehrwürdige Tod macht seltsamerweise den Eindruck als würde er mit den Augen rollen, obwohl nichts dergleichen zu sehen ist: „Jedes mal das gleiche! Du weißt doch das Jugendsünden vor dem vierzehnten Lebensjahr nicht geahndet werden! Außer es handelt sich um Schaden an Seelen.“
Der Teufel unterbricht beleidigt: „Na gut! Dann soll die Gegenseite die Jugend übernehmen.“
Der Engel, der sich ein schelmisches Grinsen verkeift, antwortet: „Na dann! Siegfried Geyer geboren zu Füssen im Jahre des Herren 1977 hat in seiner Kindheit redlich gelebt und nur selten Menschen und Tieren geschadet, niemals aber Seelen. Seine Eltern hat er geliebt und ihnen niemals vorsätzlich Kummer bereitet.“
Tod wendet den Kopf in des Teufels Richtung und zeigt auf den Engel: „Genau so sieht eine gute Eröffnung aus!“
Sierra sieht milde verwundert aus. Doch dann huscht ein Schatten über sein Gesicht: „Äh, darf ich mal eine Frage stellen? Haben meine Eltern das auch durch machen müssen?“
Tod: „Nein...“
Der Engel erklärt gütig: „Opfern von Vampirbissen wird grundsätzlich das Paradies gewährt..."
Der Teufel beeilt sich einzuwerfen: „...außer in ganz speziellen Fällen.“
Tod: "Was meinst Du, wie viel wir sonst zu tun hätten?". Nebel wabert um sein Gewand. "Und jetzt hört auf rumzutrödeln und fahrt fort..."
Ein wenig ertappt sehen Engel und Teufel zu Boden.
Dann macht der Teufel in der Luft eine Geste, als würde er viele Seiten in einem Buch umblättern. Dabei grummelt er: "Gut, dann eben NACH 14...."
Schließlich nickt er und fährt gemessen fort: "Er hat Barney, ein Mitglied seines Teams um eine Packung Donuts betrogen. In seinem ersten Jahr als Vampirjäger. Barney war ein bißchen "beschränkt", zumindest steht es so in Sierras Gedanken." Der Teufel blickt Bestätigung heischend in die Runde: "Das macht es zu einem besonders schweren Fall, denn Ausnützen von geistiger Unterlegenheit..."
Die Waagschale senkt sich nur unmerklich.
Der Tod räuspert sich warnend. "Wenn Du nicht gleich zur Sache..."
"Schon gut, schon gut." Unterbricht in der Teufel ein wenig beleidigt. "Dem Weißleuchtenden da drüben lässt Du auch immer alles durchgehen..."
Der Engel sagt protestierend: "Du weißt ganz genau, dass gute Taten schwerer wiegen und deshalb..."
"Kinder, bitte!" der Tod scheint diese Szene schon ungezählte Male erlebt zu haben.
Engel und Teufel verstummen.
Dann lächelt der Engel entschuldigend und sieht Sierra an.
"Er hat einem Straßenjungen einen Schokoladenriegel gegeben obwohl er selbst wirklich hungrig war.", wirft er auf der anderen Seite in die Waagschale. Wie von Zauberhand hebt sich die Schale und gleicht den Unterschied aus.
Der Teufel schnaubt verächtlich: "Ich hatte ja noch nicht einmal angefangen." Er lächelt und zeigt viel zu viele Zähne, die verdächtig glitzern, als wären sie aus viel gefährlicherem Material als Zahnschmelz. Plötzlich scheint es um Sierra herum kälter zu werden.
"Siegfried Geyer war VAMPIRJÄGER. Er hatte er Kontakt zu diversen Unterweltorganisationen."
Die Waagschale auf der rechten Seite sinkt abrupt ein paar Zoll tiefer.
"Er war in Schlägereien verwickelt. Schlägereien, Kämpfe und andere schlimmere Dinge sind vorgekommen. Er beging Diebstahl und Sachbeschädigung in mehr als 54 Fällen um Vampirjagden zum Erfolg zu führen. Er hat ein Haus in New Orleans angezündet um einem Vampir zu entkommen. Die Flammen stecken umliegende Häuser in Brand und verletzten acht unschuldige Menschen."
Wieder neigt sich die Waagschale tiefer.
"Er war an der Brandstiftung einer Popcornfabrik beteiligt um Vampire darin zu erwischen." Der Teufel hält kurz inne um seine nächsten Worte wirken zu lassen.
Sierra rollt die Augen und flüstert zu sich selbst: „Das war so klar...“
Der Engel macht ein verkniffenes Gesicht, soweit das einem Engel möglich ist.
"Dumm nur, das die Firma dadurch pleite ging und 212 Personen arbeitslos wurden."
Die Waage sieht mittlerweile seltsam instabil aus, so sehr hat sie sich zur rechten Seite, der Seite des Teufels, geneigt.
"Sierra hat vorsätzlich identifizierte Erwählte erschossen. In zwölf Fällen."
Die Waage scheint sich tatsächlich nicht mehr tiefer senken zu können. Triumphierend blickt der Teufel Sierra, Engel und Tod an. "Und das alles NACHDEM er 14 Jahre alt war." fügt er gehässig hinzu.
Der Tod schweigt und hebt nur kurz den Arm um den Engel zu Wort kommen zu lassen.
Der Bezeichnete sieht lange still zu Boden. Doch dann hebt er den Kopf und verkündet würdevoll:
"Siegfried Geyer war VAMPIRJÄGER. Er wählte ein beschwerliches Leben, um andere Menschen vor der Grausamkeit der Vampire zu befreien."
Die Waagschale rührt sich nicht.
"Der Kontakt zur Unterwelt war unfreiwillig, eine Verkettung unglücklicher Umstände, teilweise auch eine Notwendigkeit."
Noch immer tut sich Nichts bei den Waagschalen.
"Das abgebrannte Haus in New Orleans war eine "Crackhütte" und die Betreiber waren danach nicht mehr in der Lage, Rauschgift zu veräußern und Schaden anzurichten. Und was die Popcorn Fabrik angeht..."
Der Engel wartet einen Moment, als wäre er sich nicht sicher, was er über die Popcorn Fabrik sagen könnte: "Popcorn macht dick."
Dann lächelt er schuldbewusst, räuspert sich und fährt fort.
Die Waagschalen bewegen sich immer noch keinen Millimeter.
"Die meisten Personen, die Sierra umbrachte waren selbst Verbrecher und mussten damit rechnen, umgebracht zu werden. Viele standen schon hier vor uns.
Zwölf Erwählte hat er in Selbstverteidigung erschossen.
Außerdem hat er 483 Menschen, durch seine Tätigkeit als Vampirjäger, das Schicksal erspart, Vampiropfer zu werden."
Der Engel verstummt und grinst zufrieden, obwohl die Waage sich nicht rührt. Oder? Man glaubt eine winzige Bewegung zu erkennen. Und dann hebt sich die linke Waagschale mit einem einzigen, eleganten Schwung und gleicht sich auf das Niveau der anderen an.
Der Teufel blickt finster.
Der Tod wendet sich wieder an Sierra. Wie es aussieht, ist noch Nichts entschieden. Bereust du deine Taten bisher?"
Sierra: „Ähm...“
Dann sagt er zu Engel und Teufel. "Nun, die Herrschaften, bessere Argumente. Denn zu einem von Euch beiden muss er schließlich kommen."
Da geschieht etwas Seltsames. Engel und Teufel sehen sich plötzlich abrupt an, als sei ihnen das soeben erst klar geworden.
Dann meint der Engel verlegen: "Äh, richtig, nun ja... ähm... ich hatte da etwas übersehen und ich will ja nicht dem Teufel in die Hände spielen, aber... Sierra hat eine unschuldige Erwählte, Cynthia, die Tochter eines Mafiosi, gefoltert, um an die Information des Schlafplatzes ihres Vampirs zu kommen. Sie war ganz schrecklich süß mit ihren blonden Haaren und ihrer lieblichen Stimme..."
Die Waage sinkt auf der Seite des Teufels gefährlich abwärts.
Eigentümlich nervös betrachtet dieser das Geschehen. Er denkt einen Moment nach, und als der Engel abbricht, sagt er rechtfertigend, aber sichtlich zerknirscht:
"Ich kann nicht glauben, dass ich das jetzt sage, aber... das Argument zählt nicht."
Die Worte scheinen ihm schwer über die Lippen zu kommen.
"Denn dieses Erlebnis hat Sierra schlimme Zweifel und unsagbare Schuldgefühle bereitet. Er bereut diese Tat ernstlich." Er seufzt, als würde er einen dicken Fisch wieder ins Wasser werfen müssen... auch wenn der Grund dafür wahrscheinlich ist, dass er ungenießbar wäre.
"Sie fällt also NICHT ins Gewicht." Die linke Waage hebt sich wieder auf dasselbe Level wie die Rechte.
Der Tod steht einen Moment vollkommen überrascht da, und schwebt dann einen Schritt näher an die Waage, um sie genauer zu betrachten. "Tatsächlich...", murmelt er und zuckt ratlos die Schultern, als er sich Sierra zuwendet, "ich weiß nicht was ich sagen soll. Nun, das gab es noch nie. Es sieht so als, als stünde es unentschieden."
Heimlich schmunzeln sich Engel und Teufel an. Auf diese kluge Idee würden sie sicherlich nachher anstoßen gehen.
Alle drei verschwinden auf die gleiche geheimnisvolle Weise wie sie gekommen sind. Zurück im Nebel bleibt eine einsame Gestalt.
Sierra zu sich selbst: „Ja, genau so habe ich mir das vorgestellt!“ |