9. Akt: As der Kelche - Moment der Erkenntnis |
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Das Stück war zuende. Der schwere rote Samtvorhang fiel herab, verdeckte für einen Moment das in der Schlußszene erstarrte Bühnenbild, um sich dann wieder zu heben, und den Blick auf die lächelnden Gesichter des Ensembles freizugeben, welches sich bei der Hand haltend den wohlverdienten Applaus entgegennahm. Beifall brauste von den Rängen der Zuschauer, und vereinzelt landeten Blumensträuße auf der Bühne.
Henri lächelte in seiner altmodischen Loge. Er liebte das Theater. Heutzutage waren es nur noch wenige Blumen, die den Weg auf die Bühne fanden. Er konnte sich an eine Zeit erinnern, in denen es Hunderte roter Rosen auf eine Diva geregnet hatte. Das war vor der Zeit dieser modernen Lichtspielhäuser gewesen, in der Sprache dieser Zeit Kinos genannt, mit ihrer grellen Beleuchtung, schreiend bunten Pappfiguren und glänzenden Glastheken, an denen man aufgeplatztes Getreide und klebrige Limonade kaufen konnte, bevor man sich in einen engen Sessel zwängte, um platte Gesichter auf einer sterilen weissen Leinwand zu begaffen, während einem von der dröhnenden Musik, die einem aus den Lautsprechern entgegenschallte, die Ohren wehtaten. Es gab dort keine Schauspieler und kein Orchester, und die einzigen Menschen aus Fleisch und Blut waren die Zuschauer.
Dies hier war seine Welt, in der es nach Staub, Puder und Bohnerwachs roch, und ein klein wenig nach menschlichem Schweiss, überdeckt von Parfüm. Früher war er selbst einmal ein gefeierter Schauspieler gewesen, auf den Bühnen von Dresden, Wien und Mailand zu Hause. Früher...ja, wann war das eigentlich gewesen? Es fiel ihm in letzter Zeit immer schwerer, sich zu erinnern.
Sein Gesicht war noch immer von derselben kühnen Schönheit, deretwegen ihm in einer anderen Zeit die feinen Damen zu Füssen gelegen hatten, aber trotzdem fühlte er sich manchmal alt in dieser Welt, die sich immer schneller und schneller zu drehen schien. Er hatte sich daran gewöhnt, dass sie ihn nicht mehr wahrnahmen, dass sie durch sein schönes Gesicht hindurchsahen, als sei es nicht existent. Er hatte sich auch an die Einsamkeit gewöhnt, und an die Tatsache, dass ihm die Bühne, die ihm so viel bedeutet hatte, für immer versperrt war. Nur die Liebe zum Theater war ihm geblieben. Das war der Preis für ewige Jugend und Schönheit.
Er beugte sich vor, um ebenfalls dem Ensemble seine Ehrerbietung zu erweisen. Eine einzelne Rose hatte er mitgebracht, perfekt gewachsen, und so blutrot wie der Samt des Bühnenvorhangs. In einem eleganten Bogen schwebte sie wie eine Sternschnuppe herab, und landete direkt vor den Füßen einer hochgewachsenen brünetten Schauspielerin, die ein Kleid in demselben Farbton trug. Schlanke Finger, die sich darum schlossen, ein einzelner Blutstropfen, als ein hinterhältiger Dorn sich durch weiche Haut bohrte, ein Aufflammen winzigen, süßen Schmerzes, ein Blick aus schwarzen Herzkirschenaugen, der...den seinen traf?
Plötzlich hielt es Henri nicht länger auf seinem Sitz. Erregung und bange Erwartung packten ihn. Täuschte er sich? Nein, kein Zweifel, die schwarzen Augen hielten seinen Blick fest, und der rot bemalte Mund darunter schenkte ihm ein hinreißendes Lächeln. Jemand sah ihn an.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren...
Schon während der Vorstellung war ihr aufgefallen, dass dort oben in einer der Logen die Vorhänge nicht ganz zugezogen waren. Das war sehr ungewöhnlich, denn die altmodischen balkonartigen Gebilde hoch über den Zuschauerrängen wurden schon seit Jahren nicht mehr von regulären Theaterbesuchern genutzt.
Neugierig hatte Sophie einige Male zwischen den Falten der schweren Samtvorhänge hinaufgespitzt, während sie hinter den Kulissen auf ihren Auftritt wartete. Einmal meinte sie sogar, kurz ein Gesicht in den Schatten gesehen zu haben. Sie hatte genügend Muße zum Kiebitzen gehabt, denn trotz aller Bemühungen hatte sie bisher immer nur kleine Nebenrollen bekommen, bei denen sie mehr Zeit hinter, als auf der Bühne verbrachte. Aber sie nahm es nicht tragisch. Sie glaubte fest daran, dass irgendwann schon jemand ihr Talent entdecken würde, wenn sie sich nur Abend für Abend die Seele aus dem Leib spielte. Schon immer hatte sie das Theater geliebt. Viele ihrer Kommilitonen von der Schauspielschule waren lieber zum Film gegangen, aber das war nichts für sie. Sie träumte davon, einmal die Titania in Shakespeares Sommernachtstraum zu spielen, oder die weibliche Hauptrolle in Romeo und Julia...
Während sie gemeinsam mit ihrem Ensemble nach vorn trat, um sich vor dem Publikum zu verneigen, wurde ihr Blick immer wieder wie magisch von der Öffnung dort oben angezogen. Sie war sicher, dass dort jemand war. Er musste entweder sehr reich sein, oder sehr viel Einfluss haben, um während einer regulären Theateraufführung in der normalerweise abgesperrten Loge sitzen zu dürfen. Vielleicht auch beides. Seltsam war allerdings, dass sie, Sophie, die Einzige zu sein schien, die überhaupt etwas davon mitbekam. Kein Getuschel hinter der Bühne, keine verstohlenen Blicke. Nichts.
Tief beugte sie in einer schwungvollen Verbeugung den Nacken, dass ihre langen, dunklen Locken wie ein seidiger Vorhang nach vorn fielen. Da nahm sie plötzlich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr, und einen Herzschlag später landete etwas direkt neben ihrem Schuh. Eine Rose. Jemand aus dem Publikum musste sie auf die Bühne geworfen haben. Sie wusste selbst nicht, warum sie danach griff, um sie aufzuheben, aber sie tat es, und fühlte gleich darauf den stechenden Schmerz, als sie sich den Daumen an einem Dorn ritzte. Trotzdem ließ sie die Rose nicht los, im Gegenteil, sie hatte das Bedürfnis, sie festzuhalten, den süßen Duft tief aus den geschwungenen Blütenblättern zu saugen, die sich ihr voll und rot wie zum Kuss bereite Lippen entgegenwölbten. Die samtigen Blätter fühlten sich beinahe wie menschliche Haut an. Noch nie hatte sie eine so vollkommene Blüte gesehen. Ihr Blick glitt hinauf zu den Rängen der Zuschauer, um zu sehen, wer sie hinuntergeworfen haben könnte.
Da sah sie ihn. Dort oben in der Loge stand er, halb im Schatten verborgen. Ein Fremder. Er war nach einer merkwürdigen Mode gekleidet, wie aus einem Theaterstück des achtzehnten Jahrhunderts. Sein schmales Gesicht war edel geschnitten, und er trug das schwarze Haar zu einem Zopf gebunden. Der seltsam flehende Blick seiner hypnotischen dunklen Augen berührte etwas tief in ihrer Seele. Sophie lächelte ihm zu, und er streckte die Hand nach ihr aus, als wollte er sie berühren. Für einen Augenblick wurde alles unwichtig. Die Bühne, das Publikum, die Schauspieler. Es gab nur noch sie und die Augen des merkwürdigen Fremden, in denen sie zu versinken drohte wie in einem tiefen, dunklen See…
Der Vorhang fiel. Der Applaus verebbte. Der magische Moment war vorbei. Sophie schaute auf die verwelkte Rose in ihrer Hand, und fühlte sich mit einem Mal entsetzlich allein. |
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Datum: |
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21.09.2004 |
Autor: |
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Onyx |
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