2011.10.29 - Tanz der Schatten: Unter Wölfen |
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Ich betrete den Ballsaal und spüre, wie das Adrenalin durch meine Adern pumpt. Mein Mund ist trocken und meine Knie zittern. Ich wusste nicht das Tod und Verfall so greifbar sein können. Das was wir sonst aus unserem Leben ausschließen, hier ist es allgegenwärtig, ja es wird regelrecht zelebriert.
Ich habe einen Flashback, als mich die Wahrheit trifft wie ein Vorschlaghammer: Mein Traum, der Traum, den ich vor Wochen hatte, jetzt ist er wahr geworden. Im Traum laufe ich durch eine Zimmerflucht, alles ist in ein trübes Zwielicht gehüllt. Ich bin allein, doch gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass mich jemand aus den Schatten heraus beobachtet. Die Schatten sehen merkwürdig aus, so dicht, als hätten sie Substanz. Ihre Bewegungen sind... unnatürlich, irgendwie falsch. Ich laufe und laufe, doch die Zimmer nehmen kein Ende - bewege ich mich im Kreis? Etwas schnürt mir die Luft ab und ich kann nicht weiter. Ich kann mich auch nicht in den Schatten verstecken, denn dort ist jemand. Während ich langsam zu Boden sinke, kommt einer der Schatten auf mich zu und ich höre die Worte "It´s o.k. to let go...". Mir laufen Tränen über das Gesicht - Trauer? Freude? Plötzlich ist alles in gleißendes Licht getaucht. Ein Glas zerspringt in tausend Scherben. Ich kann mich selbst in den Scherben sehen, tausendfach, tausendfache Augen... Ich kann nicht anders, ich muss die Scherben berühren und dann schießt ein scharfer Schmerz durch meine Hand und ich wache auf.
Innerhalb von vier Monaten hat sich mein Leben in diesen Albtraum verwandelt. Alles was ich erlebt habe, explodiert noch einmal vor meinen Augen in einer Wolke aus Angst. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag: Das war´s, es gibt kein Entkommen mehr. Das Leben, das ich führen wollte, ist vorbei. Ich schwanke zwischen Wut und Trauer, aber ich darf mir nichts anmerken lassen. Es fühlt sich an, als wäre ich in Treibsand geraten, je mehr ich um mich schlage, desto tiefer versinke ich.
Ich werde gefragt... von "ihnen", was mit mir los sei, Shirley lügt geistesgegenwärtig und erzählt was von einer gerade überstandenen Grippe, ich nicke und weiß genau, dass sie uns durchschauen, dass meine Angst so greifbar ist, wie der Tod um uns herum.
Raphael tritt mir in den Weg. Er habe mein Blog gelesen und die Verschlüsselung nicht knacken können, der Code sei unlogisch gewesen, sagt er. Sein Blick macht mir Angst, so abwesend, so gleichgültig... ist das Täuschung, damit "sie" nichts merken oder hat er schon aufgegeben? Ich soll meine Angst besiegen, damit ich nicht "zerbreche", sagt er noch. Mutig sein... als ob das so einfach wäre... unter Wölfen.
Kassandra liest aus meiner Hand und teilt mir mit, dass ich heute Nacht nicht sterben werde, dass ich noch einige Jahre am Hof der Nacht vor mir habe. Ich belächele sie, mache mich lustig über sie und bereue es im selben Atemzug, wünsche mir, sie würde recht behalten.
Ich werde Sir Archibald vorgestellt, er wirkt freundlich... zu freundlich? Ich spreche mit ihm darüber, dass mein Weltbild die Wahrheit, die ich hier erfahren habe, nicht fassen kann. Auch er merkt mir die Panik an, sagt, ich solle mich doch beruhigen. Und wirklich merke ich, wie mein Herz aufhört zu rasen und ich atme tief durch. Er fragt, warum ich mich so gegen die Erkenntnis wehre, alles hier sei doch mit biologischen Vorgängen erklärbar. Ich bin dankbar für seine Worte, aber meint er es ehrlich oder will er mich nur beruhigen?
Ich entschuldige mich, will Shirley suchen, obwohl sie genauso viel Angst hat wie ich, ist sie fast wie ein Rettungsanker. Doch als ich aufstehe, bittet mich Lothringus zu einem Gespräch. Ich folge ihm, mit zitternden Knien und doch noch immer etwas ruhiger als zu Beginn des Abends. Er fragt mich, ob ich lernen möchte zu kämpfen. Ist das die einzige Lösung? Ich breche fast in hysterisches Lachen aus, als mir klar wird, wie ich vor vier Monaten auf eine solche Frage reagiert hätte. Merkt er denn nicht, dass ich gerade in diesem Augenblick mit mir selbst kämpfe, um nicht einfach wegzulaufen?
Lothringus spricht von der "Würde", so als sei sie das höchste Gut, das man am Hof der Nacht besitzen kann. Sie sei das eine, das man sich nicht nehmen lassen darf. Mir wird klar, wie weit davon ich heute Abend entfernt bin, Würde auszustrahlen und ich werde wütend auf das Häufchen Elend, das ich bin. Unter Wölfen muss man Wolf sein. Nie wieder schwöre ich mir, während ich Lothringus zuhöre. Nie wieder. Tatjana kommt dazu, fragt ob wir uns gut unterhalten. Die beiden belauern sich, ich nehme die Wut wahr, fast wie das Summen einer elektrischen Spannung. Ich frage mich, wann sie sich zu einem Blitz entlädt. Ich stehe zwischen den beiden und wundere mich, warum es so lange dauert, bis ich aus der Starre erwache und auf Abstand gehe. Es geschieht in dem Augenblick, als Lothringus die Zähne fletscht. Das Knurren, das aus seiner Kehle dringt, durchbricht meinen Schockzustand und ich tauche unter Tatjanas Arm weg und weiche zurück. Und trotzdem kann ich die Augen nicht von diesem Duell abwenden.
Die Raubtiere belauern sich und sie belauern uns... Freiwild, netter Zeitvertreib und Nahrung, nichts weiter. In immer kürzeren Abständen bricht die mühsam gezügelte Wut hervor, Streitigkeiten flammen auf... Rangkämpfe? Alle Nerven zum Zerreißen gespannt... Menschen, die gebissen werden und nur glücklich lächeln, weil sie überlebt haben, andere sterben...
Ich muss an Belgau denken, der meine Seele retten wollte. Zu spät. Würde er jetzt vom Jäger zum Gejagten? Die Gastgeberin wird mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, ich lache fast bei dem Gedanken, dass sie uns alle irgendwann einholt, egal ob sterblich oder unsterblich, es ist alles nur eine Frage der Zeit. Mich hat sie ja auch erwischt, vor vier Monaten. Meine Gedanken drohen abzuschweifen, wie tödlich das sein kann, erfahre ich schon nach Sekunden, in der plötzlichen Dunkelheit.
Die Jagd ist eröffnet, wer jetzt keinen Schutz hat, kann mit dem Leben abschließen. Ich denke an die Menschen, die wissen wo ich bin und die mich vor Tagen gewarnt haben und die die Polizei rufen, wenn ich mich morgen nicht melde. Aber die Polizei konnte ja bei den Morden beim Darkness Remains-Konzert und in Berlin auch nichts machen. Oder Chris finden. Wo bist du nur und was würdest du zu allem hier sagen, Bruderherz? Und Tom, mit so was hast du dich also eingelassen und bist auch noch stolz drauf? Bei allem Hass, wünschte ich trotzdem, du wärst jetzt hier.
Die Kerzen flammen wieder auf, die Vampire haben Neulinge in ihren Reihen. Und sie sind hungrig. Lektionen in Demut. |
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Datum: |
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02.11.2011 |
Autor: |
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Nikki Bischoff |
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